Diabetes zum Beispiel (Editorial, frei zugänglich)
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 32
, Nummer 3, PK731
Redaktionsschluss: 29. September 2010
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2010.731
Wir wissen alle, wie gross die Bedeutung eines Diabetes mellitus ist für die Entstehung verschiedenster Folgeereignisse – Herzinfarkt, Schlaganfall, periphere Durchblutungsstörungen, Visusverlust, Nierenversagen und noch mehr. Während für frühere Generationen die Schrecken des «Jugend-Diabetes» (Typ 1) im Vordergrund standen, ist heute die praktische Bedeutung des Typ-2-Diabetes überragend geworden. Unsere Bemühungen um eine möglichst gute Korrektur des Kohlehydratstoffwechsels haben in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos vielen Diabeteskranken das Leben verlängert. Dass dabei neben einer adäquaten Diät und (sofern notwendig) Insulin auch verschiedene Antidiabetika von Bedeutung sind, kann ebenfalls nicht bezweifelt werden. Metformin (Glucophage® u.a.), das lange Zeit als Mittel zweiter Wahl galt, hat sich heute als wichtigstes Basismedikament etabliert. Dennoch machen uns die vielen, denen die erwähnten Mittel zu wenig helfen, weiterhin Sorgen.
Es ist deshalb durchaus richtig, dass sich die Industrie intensiv darum bemüht, weitere, besser wirksame Antidiabetika zu entwickeln. Was wir benötigen, sind Medikamente, die zuverlässige klinische Erfolge – d.h. eine Abnahme der Diabetes-Folgeereignisse – erreichen, die aber auch frei sind von den heute noch vielen Antidiabetika anhaftenden Problemen. Namentlich die Hypoglykämien und die Gewichtszunahme sind Behandlungsfolgen, die sowohl aus ärztlicher Sicht wie auch aus der Perspektive der Betroffenen als ausgesprochen unerwünscht bezeichnet werden müssen.
In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich, das Dogma zu hinterfragen, welches besagt, eine bessere «Kontrolle» der Blutzucker- und HbA1c-Werte bedeute quasi automatisch, dass auch klinische Ereignisse besser verhindert würden. Es gibt zwar sehr gute Anhaltspunkte dafür, dass eine bessere metabolische «Kontrolle» wahrscheinlich einem sinnvollen Surrogat-Endpunkt entspricht. Medikamente, die diesen Surrogat-Endpunkt vorteilhaft beeinflussen, haben jedoch alle noch weitere Wirkungen, z.B. auf Mechanismen, die sich nicht auf den Blutzucker, sondern direkt oder indirekt auf Gefässveränderungen oder andere pathogenetische Vorgänge auswirken. Dass es möglich ist, dass solche «weiteren» Wirkungen mit eindeutig negativen Konsequenzen verbunden sind, hat sich nun am Beispiel von Rosiglitazon (Avandia®) erneut bestätigt.
Mehr als 10 Jahre nach der Einführung von Rosiglitazon ist die europäische Arzneimittelbehörde EMA zum Entscheid gekommen, die Zulassung für dieses Medikament zu «sistieren». Zum selben Zeitpunkt hat die FDA ziemlich halbherzig entschieden, Rosiglitazon nur noch unter sehr stark einschränkenden Bedingungen auf dem Markt zu belassen. Rosiglitazon kann nicht nur zu Herzinsuffizienz und Osteoporose, sondern – wie in einer neueren Metaanalyse bestätigt –(1) auch zu einer Häufung von Herzinfarkten führen. Nur in einer einzigen Studie (der sogen. RECORD-Studie) ist nach «harten» kardiovaskulären Endpunkten unter Rosiglitazon gesucht worden;(2) alle anderen Studien liefern nur Resultate zur Surrogat-Endpunkten. Die RECORD-Studie, die bezüglich Myokardinfarkt kein schlüssiges Ergebnis hervorbrachte, kann jedoch zu Recht kritisiert werden, da das Schicksal zu vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer (fast 3%) unbestimmt blieb («lost to follow-up»). In Anbetracht einer Mortalitätsrate von 6,6% ergibt sich aus der grossen Zahl von «verlorenen» Leuten ein hohes Ausmass von Unsicherheit.(3)
Von den neueren Antidiabetika wie beispielsweise den Gliptinen, Exenatid (Byetta®) oder Liraglutid (Victoza®) verfügt noch kein einziges über zuverlässige Daten zu ihren Auswirkungen auf klinisch bedeutsame Ereignisse. Es lässt sich daher nicht sagen, ob wir den Patientinnen und Patienten mit diesen Mitteln mehr nützen als schaden. Die antidiabetische Therapie ist aber keineswegs das einzige Gebiet, in dem unsichere neue Mittel von der Industrie vermarktet, von den Behörden toleriert und – leider – auch von Fachleuten propagiert werden. Ich erinnere nur an die unglückselige Geschichte von Rofecoxib (Vioxx®).
Wenn wir wollen, dass wirklich das Wohl kranker Menschen erste Priorität erhält, so gibt es nur eine Schlussfolgerung: Wir müssen fordern, dass vor der Einführung eines neuen Medikamentes zuverlässigere Daten aus methodologisch besseren Studien zur Verfügung stehen. Es geht nicht an, dass wir mit Placebovergleichen abgespeist werden, wenn bereits wirksame Therapien vorhanden sind. Studien, deren Aussagekraft durch unerklärte Verluste von Teilnehmenden geschwächt sind, können nicht akzeptiert werden. Statt unsicheren Surrogat-Endpunkten müssen klinische Studien schon früh auf gesicherte, klinisch relevante Endpunkte ausgerichtet sein. Es ist mir bewusst, dass anspruchsvolle Studien einen grossen Aufwand darstellen und dass die vorgeschlagenen Anforderungen die Einführung von Medikamenten verzögern können. Auch ist es wohl naiv zu erwarten, die Industrie sei tatsächlich in der Lage, ständig hochwirksame neue Mittel hervorzubringen. Ich könnte mir deshalb auch vorstellen, dass man über eine Verlängerung des Patentschutzes diskutieren sollte. Ein längerer Patentschutz wäre jedenfalls das weit kleinere Übel als die aktuelle Situation, die eine unberechenbare Gefährdung kranker Menschen darstellt.
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