Neuere Antidiabetika im Vergleich
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 38
, Nummer 9, PK1004
Redaktionsschluss: 15. Dezember 2016
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2016.1004 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Die folgende Übersicht befasst sich mit den drei Gruppen von Antidiabetika, die in den letzten 10 Jahren eingeführt worden sind. Es handelt sich um die DPP-4-Hemmer (Gliptine), die GLP-1-Rezeptoragonisten (Glutide) und die SGLT-2-Hemmer (Gliflozine). Die neuen Medikamente sind alle bereits einzeln in dieser Zeitschrift vorgestellt worden.
Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen
Einige Eigenschaften sind allen Substanzen in einer Präparategruppe gemeinsam und können deshalb als «gruppentypisch» bezeichnet werden. Diese Merkmale sind in der Tabelle 1 zusammengefasst. Für alle Substanzen dieser drei Gruppen gilt, dass sie allein in der Regel nicht oder nur selten zu Hypoglykämien führen. Ebenso ist üblicherweise keine Gewichtszunahme festzustellen (weitere Hinweise bei den einzelnen Gruppen).
DPP-4-Hemmer (Gliptine)
Auf Sitagliptin, das seit 2007 in der Schweiz unter den Namen Januvia®und Xelevia® verkauft wird, folgten schon bald vier weitere Gliptine, im Wesentlichen alle mit sehr ähnlichen Eigenschaften und Studienresultaten. Die Tabelle 2 vermittelt einen Überblick zu diesen Substanzen. Die Resultate der aktuell vorliegenden Studien lassen sich folgendermassen zusammenfassen:
In Bezug auf das glykosylierte Hämoglobin (HbA1c) sind Gliptine im Vergleich mit einigen anderen Antidiabetika weniger wirksam. Dies gilt insbesondere auch gegenüber Metformin (Glucophage® u.a.). In den Studien führten die Gliptine meistens zu einer HbA1c-Abnahme in der Grössenordnung von 0,5 bis 0,7%.
Sie sind praktisch alle auch in Kombination mit Metformin, Pioglitazon (Actos®), verschiedenen Sulfonylharnstoffen und Insulin untersucht worden und haben dabei eine ähnliche Wirkung auf das HbA1c gezeigt wie in der Monotherapie.
Gliptine führen im Durchschnitt zu einer geringen Gewichtsabnahme (oder haben eine «neutrale» Wirkung). Hypoglykämien kommen unter einer Gliptin-Monotherapie praktisch nicht vor.
Gefährliche unerwünschte Wirkungen wie eine schwere Hautreaktion, ein anaphylaktischer Schock, eine intestinale Obstruktion oder ausgeprägte Gelenkschmerzen kommen vor, sind aber selten. Möglicherweise ist auch das Risiko einer Pankreatitis erhöht. Hinsichtlich anderer unerwünschter Wirkungen unterscheiden sich Gliptine nicht stark von Placebos.
Gliptin-Studien zu kardiovaskulären Endpunkten wurden bei Diabeteskranken durchgeführt, die neben dem Diabetes eine kardiovaskuläre Begleiterkrankung oder mehrere entsprechende Risikofaktoren hatten. Für drei der fünf Gliptine liegen bisher Studienresultate vor (siehe Tabelle 3).(1-3) Gesamthaft zeigen diese keinen Vorteil der Gliptine gegenüber Placebo. In einer dieser Studien (SAVOR-TIMI 53) ergab sich jedoch für Saxagliptin eine gegenüber Placebo signifikant höhere Hospitalisationsrate wegen Herzinsuffizienz.(1) In einer anderen Studie (EXAMINE) war die Zahl der Herzinsuffizienz-bedingten Spitaleinweisungen auch unter Alogliptin grösser als unter Placebo (nur nummerisch, nicht signifikant).(2)
GLP-1-Rezeptoragonisten (Glutide)
In der Schweiz sind zurzeit drei GLP-1-Rezeptoragonisten im Handel. (Ein vierter, Albiglutid, ist zugelassen, aber aktuell – Dezember 2016 – nicht im Verkauf.) Die Tabelle 4 vermittelt einen Überblick zur Dosierung und zu den Kosten.
Abgesehen von den unterschiedlichen Dosierungsmodi sind die Unterschiede zwischen diesen Medikamenten wahrscheinlich geringer, als sich aufgrund einzelner Studien annehmen liesse. (Es gibt auch einige Direktvergleiche zwischen den verschiedenen Glutiden.) In den Studien liess sich mit den aktuell verfügbaren Glutiden meistens eine HbA1c-Senkung im Bereich von 1,0% erreichen. Dass einzelne Studienresultate positiv oder negativ davon abweichen, beruht einerseits auf unterschiedlichen Basiswerten des HbA1c, anderseits auf verschiedenen Dosierungen der Medikamente. Einzig nicht-retardiertes Exenatid, das zweimal täglich injiziert werden muss, erreicht wohl eine etwas geringere HbA1c-Senkung (um 0,8%).
Ähnliches gilt für die übrigen Wirkungen dieser Medikamente: Sie führen meistens zu einer relevanten Gewichtsabnahme, deren Ausmass wiederum von den Ausgangswerten und der Dosierung abhängig ist. (In vielen Ländern – aber bisher nicht in der Schweiz – ist eine hohe Liraglutid-Dosis [3 mg/Tag] zur Behandlung des Übergewichts zugelassen, wobei auch Personen ohne Diabetes behandelt werden können.) Unter Glutiden kann eine Blutdrucksenkung beobachtet werden. Alle Glutide verursachen häufig ausgeprägte Magen-Darm-Beschwerden (Inappetenz, Brechreiz, Erbrechen, Durchfall). Unter einer Glutid-Monotherapie ist das Hypoglykämie-Risiko gering. Da diese Medikamente aber oft zusammen mit Antidiabetika gegeben werden, die Hypoglykämien verursachen, gilt es, dieses Risiko dennoch zu beachten. Ein erhöhtes Risiko für Pankreatitiden, Pankreastumoren, Erkrankungen der Gallenwege und Schilddrüsentumoren ist aktuell nicht klar nachgewiesen, kann jedoch auch nicht zuverlässig ausgeschlossen werden.
In einer grossen Doppelblindstudie (LEADER-Studie, 9340 Teilnehmende in zwei gleich grossen Gruppen, mediane Studiendauer 3,8 Jahre) wurde Liraglutid in einer Tagesdosis von 1,8 mg mit Placebo verglichen. Daran beteiligt waren Diabeteskranke im Alter von 50 und mehr Jahren mit mindestens einer kardiovaskulären Begleiterkrankung (z.B. einer koronaren Herzkrankheit; über 60 genügte die Präsenz eines kardiovaskulären Risikofaktors). Ihr HbA1c-Wert lag initial bei durchschnittlich 8,7%. Die Behandlung mit anderen Antidiabetika wurde fortgesetzt. Der kombinierte primäre Endpunkt war definiert durch den Zeitpunkt eines kardiovaskulären Todes oder das erstmalige Auftreten eines nicht-tödlichen Herzinfarktes oder eines nicht-tödlichen Schlaganfalls («time-to-event»-Analyse). Dieser Endpunkt wurde unter Liraglutid von 608, unter Placebo aber signifikant häufiger von 694 Personen erreicht. Auch die Gesamtmortalität war in der Placebo-Gruppe signifikant höher. In Bezug auf verschiedene sekundäre Endpunkte – nicht-tödlicher Herzinfarkt oder Schlaganfall, Hospitalisation wegen Herzinsuffizienz – ergab sich aber kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen. 36 Monate nach Studienbeginn war der HbA1c-Wert in der Liraglutid-Gruppe um durchschnittlich 0,4% kleiner als in der Placebo-Gruppe.(4) Für andere Glutide liegen zurzeit keine vergleichbaren Daten vor.
SGLT-2-Hemmer (Gliflozine)
Obwohl das erste Gliflozin (Canagliflozin) erst 2013 eingeführt wurde, sind bereits mehrere Vertreter dieser Gruppe im Handel (und einige weitere in der Entwicklung). Die Tabelle 5 enthält eine Übersicht zu den in der Schweiz erhältlichen Mitteln, mit Dosierungs- und Preisangaben.
Die Auswirkungen der Gliflozine auf das glykosylierte Hämoglobin (HbA1c) sind moderat: man kann üblicherweise mit einer Senkung um 0,5% rechnen. Die Gliflozine führen auch zu einer Abnahme des Blutdrucks, des Körpergewichts und der Harnsäurespiegel sowie zu einer leichten Zunahme der LDL- und der HDL-Cholesterinspiegel. Die Wirksamkeit dieser Medikamente nimmt mit abnehmender Nierenfunktion ab; sie sind bereits bei einer mittelschweren Niereninsuffizienz kontraindiziert (siehe Tabelle 5).
Häufige unerwünschte Wirkungen der Gliflozine sind Harnwegsinfektionen und Mykosen im Bereich der Genitalien (bei Frauen häufiger). Infolge der diuretischen Wirkung kann es zu einem Volumendefizit kommen, mit dem Risiko einer orthostatischen Hypotonie. Hypoglykämien treten unter einer Monotherapie mit diesen Mitteln praktisch nicht auf, wohl aber bei der Kombination mit gewissen anderen Antidiabetika (z.B.Insulin, Sulfonylharnstoffen). Unter der Behandlung mit SGLT-2-Hemmern kann es selten (bei weniger als 1% der Behandelten) zu einer Ketoazidose kommen, bei der die Blutzuckerwerte wenig erhöht oder normal sind. Sowohl unter Canagliflozin als auch unter Dapagliflozin ist es in Einzelfällen zu einer akuten Niereninsuffizienz gekommen.(5) Es gibt Hinweise auf eine erhöhte Frakturhäufigkeit und eine reduzierte Knochendichte unter Canagliflozin; ob dies auch auf die anderen Gliflozine zutrifft, ist bisher nicht klar.
Zur Frage der Auswirkungen auf kardiovaskuläre Endpunkte liegen zurzeit nur die Resultate zu Empagliflozin vor: In der doppelblinden EMPA-REG-OUTCOME-Studie erhielten 7020 Personen mit einem Typ-2-Diabetes, alle mit dokumentierter kardiovaskulärer Begleiterkrankung, in drei ungefähr gleich grossen Gruppen täglich 10 mg oder 25 mg Empagliflozin oder Placebo; die vorgängige antidiabetische Therapie wurde weitergeführt, die Beobachtungsdauer betrug median 3,1 Jahre. Die Resultate in den beiden Empagliflozin-Gruppen waren sehr ähnlich, weshalb sie zusammengefasst mit Placebo verglichen wurden. Der kombinierte primäre Endpunkt der Studie (kardiovaskulär bedingter Tod, nicht-tödlicher Herzinfarkt oder nicht-tödlicher Schlaganfall) wurde signifikant seltener unter Empagliflozin (von 10,5% der Behandelten) als unter Placebo (12,1%) erreicht, entsprechend einer NNT («Number Needed to Treat») von 63. In den Empagliflozin-Gruppen war auch die Gesamtmortalität und die Zahl der Hospitalisationen wegen Herzinsuffizienz kleiner. Dagegen ergab sich bezüglich Herzinfarkt und Schlaganfall kein nennenswerter Unterschied zwischen aktiver Therapie und Placebo.(6) Eine Verschlechterung der Nierenfunktion fand sich jedoch in dieser Studie in den Empaglifozin-Gruppen nur bei 12,7%, in der Placebo-Gruppe dagegen bei 18,8%.(7)
Zu den entsprechenden Studien mit Canagliflozin (CANVAS) und Dapagliflozin (DECLARE-TIMI 58) liegen zurzeit keine Schlussresultate vor. Zu erwähnen ist jedoch ein Zwischenresultat aus der CANVAS-Studie: Unter Canagliflozin wurden pro Jahr bei 5 bis 7 von 1000 Behandelten eine Amputation an den unteren Extremitäten vorgenommen (bes. Zehen), unter Placebo nur bei 3 von 1000.(8)
Kombinationspräparate
Die oral verabreichbaren Gliptine und Gliflozine sind in den gebräuchlichen Dosierungen alle auch in fixen Kombinationen mit Metformin (in verschiedenen Dosisabstufungen: 500, 850 und 1000 mg Metformin pro Tablette) erhältlich. Das paren-teral verabreichte Xultophy®, eine Kombination von Insulin-Degludec und Liraglutid, wurde vor kurzem separat in dieser Zeitschrift besprochen.(9)
Kommentar
Die antidiabetische Therapie soll einerseits makrovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkt und Schlaganfall, anderseits mikrovaskuläre Komplikationen wie eine Verschlechterung der Nieren- oder der Sehfunktion verhüten. Eine Herzinsuffizienz oder eine periphere arterielle Verschlusskrankheit sind weitere Probleme, bei denen man sich eine vorbeugende Wirkung wünscht. Da die Verbesserung des üblichen Surrogat-Endpunkts – d.h. eine Senkung des glykosylierten Hämoglobins – kardiovaskuläre Endpunkte nicht zwingend positiv beeinflusst, sind Studien mit echten klinischen Endpunkten notwendig.
Unter den bisher abgeschlossenen Studien mit neueren Antidiabetika stehen aktuell zwei im Vordergund: LEADER (mit Liraglutid) und EMPA-REG-OUTCOME (mit Empagliflozin). Diese beiden Studien haben (im Vergleich mit Placebo) einen statistisch signifikanten Vorteil bezüglich eines aus mehreren kardiovaskulären Ereignissen zusammengesetzten Endpunkts gezeigt. Störend ist allerdings, dass in keiner Studie ein überzeugender Einfluss auf die beiden wichtigsten Einzelereignisse – Herzinfarkt und Schlaganfall – gezeigt werden konnte. Mit Empagliflozin ergab sich immerhin, im Gegensatz zu Liraglutid, eine positive Beeinflussung der Herzinsuffizienz-bedingten Hospitalisationen. Da sowohl Glutide wie Gliflozine in der Regel das Gewicht und den Blutdruck senken, stellt sich die Frage, ob sich denn mit anderen Therapien, die diese Grössen beeinflussen, nicht ebenso viel erreichen liesse. Daneben sind noch weitere Fragen offen, insbesondere wäre eine Erklärung für das wenig überzeugende Abschneiden der DPP-4-Hemmer zu finden. Bis wir allenfalls diese relativ teuren neuen Antidiabetika zum Standard erklären können, ist also noch ein weiter Weg zu gehen.
Literatur
- 1) Scirica BM et al. N Engl J Med 2013; 369 : 1317-26
- 2) White WB et al. N Engl J Med 2013 ; 369 : 1327-35
- 3) Green JB et al. N Engl J Med 2015; 373: 232-42
- 4) Marso SP et al. N Engl J Med 2016; 375: 311-22
- 5) http://pkweb.ch/2eFy7NI
- 6) Zinman B et al. N Engl J Med 2015; 373: 2117-28
- 7) Wanner C et al. N Engl J Med 2016; 375: 323-34
- 8) http://pkweb.ch/2eFnDxF
- 9) Gysling E. pharma-kritik 2015; 37: 43-4 (pk979)
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