Blutungsrisiko der neuen oralen Antikoagulantien
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 39
, PK1035, Online-Artikel
Redaktionsschluss: 6. März 2018
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2017.1035
Seit knapp zehn Jahren sind neue orale Antikoagulantien im Handel, die nicht auf einem Vitamin-K-Antagonismus basieren. Sie werden heute meistens als direkte orale Antikoagulantien (DOAK) bezeichnet, da sie ein einzelnes Element der Gerinnungskaskade beeinflussen. Rivaroxaban (Xarelto®), Apixaban (Eliquis®) und Edoxaban (Lixiana®) hemmen den Faktor Xa, Dabigatran (Pradaxa®) das Thrombin. Wie die Vitamin-K-Antagonisten Phenprocoumon (Marcoumar®) und Acenocoumarol (Sintrom®) sind auch die DOAK Ursache von mehr oder weniger gefährlichen Blutungen. Das britische «Drug and Therapeutics Bulletin» hat in seiner Nummer vom November 2017 die aktuell verfügbaren Daten zum Blutungsrisiko der DOAK zusammengestellt.(1) Der folgende Text entspricht im Wesentlichen einer Zusammenfassung dieses Artikels.
Als gefährliche Blutungen («major bleeding events») werden allgemein die folgenden Ereignisse bezeichnet: Intrakranielle Blutungen, Blutungen in anderen kritischen Bereichen (Perikard, Atemwege, Harnwege, Retroperitoneum, Augen), Hämoglobin-Abfall um mehr als 2 g/dl und alle Blutungen, die zum Tode führen.
Eine Übersicht aus dem Jahr 2012 enthält unter anderem Daten zum Blutungsrisiko unter dem Vitamin-K-Antagonisten Warfarin aus acht randomisierten Studien bei Personen mit Vorhofflimmern. Da gefährliche Blutungen in diesen Studien nicht einheitlich definiert waren, fand sich für diese eine recht unterschiedliche Inzidenz, zwischen 1,4 und 3,4% pro Jahr.(2) In einer Meta-Analyse sind vier randomisierte Studien mit den aktuell verfügbaren, oben erwähnten DOAK zusammengefasst worden: Im Vergleich mit Warfarin verursachten DOAK mehr gastro-intestinale Blutungen (relatives Risiko 1,25, 95%-Vertrauensintervall 1,01-1,55), aber weniger intrakranielle Blutungen (relatives Risiko 0,48, 95%-Vertrauensintervall 0,39-0,59).(3) Da die Studien viele Ausschlusskriterien aufwiesen, sind die Ergebnisse aber nicht unbesehen auf den Praxis-Alltag zu übertragen.
Direkte kontrollierte Vergleiche zwischen den verschiedenen DOAK sind bisher nicht publiziert worden. Gemäss einer dänischen Kohortenstudie beträgt das Risiko einer gefährlichen Blutung unter Rivaroxaban 2,8%, unter Apixaban 2,2% und unter Dabigatran 1,8% pro Jahr.(4)
Die bisher vorliegenden Publikationen kommen allgemein zum Schluss, die DOAK stellten ein kleineres Risiko einer intrakraniellen Blutung dar als die Vitamin-K-Antagonisten. In einer systematischen Übersicht mit 28 Beobachtungsstudien ergab sich für Apixaban, Dabigatran und Rivaroxaban ein gegenüber Vitamin-K-Antagonisten deutlich reduziertes Risiko einer solchen Blutung («Hazard Ratio» zwischen 0,42 und 0,64).(5) In einer bisher erst als Abstract veröffentlichten Meta-Analyse von Studien wurde das Risiko einer intrakraniellen Blutung unter den vier aktuell erhältlichen DOAK evaluiert. Dabigatran und Edoxaban waren hier die Substanzen mit dem geringsten Risiko, während Rivaroxaban kein signifikant reduziertes Risiko gegenüber den Kontrollen (Warfarin, niedermolekulare Heparine) aufwies.(6)
Mit dem in der Schweiz üblicherweise verwendeten Vitamin-K-Antagonisten Phenprocoumon (Marcoumar®) sind die DOAK nicht in kontrollierten Studien verglichen worden. Es gibt lediglich eine – vergleichsweise wenig aussagekräftige – retrospektive Kohortenstudie, wonach das Blutungsrisiko unter Apixaban geringer, unter Dabigatran ähnlich und unter Rivaroxaban höher als unter Phenprocoumon wäre.(7)
Überwachung der Antikoagulation
Im Vergleich mit den Methoden, mit denen die Antikoagulation mittels Vitamin-K-Antagonisten und Heparin überwacht werden können, stehen bei den DOAK nur wenig Möglichkeiten zur Verfügung, das Ausmass der Gerinnungshemmung zu beziffern. Gemäss der «European Heart Rhythm Association» kann die aktivierte partielle Thromboplastin-Zeit (aPTT) die Dabigatran-Aktivität und die Prothrombin-Zeit die Rivaroxaban-Aktivität qualitativ erfassen. Für Dabigatran gibt es einen speziellen Test (Ecarin-Gerinnungszeit), der jedoch oft nicht verfügbar ist. Für Apixaban und Edoxaban gibt es kaum Messmethoden.
Verfahren bei Blutungen
Auch aktuelle Richtlinien zur Behandlung von Antikoagulantien-induzierten Blutungen enthalten kaum Elemente von DOAK-spezifischen Optionen.(8) Da die DOAK eine vergleichsweise kurze Plasmahalbwertszeit haben, wird oft eine «wait-and-see»-Strategie empfohlen. Bei Dabigatran spielt die renale Ausscheidung eine wichtige Rolle, weshalb allenfalls eine Dialyse in Betracht gezogen werden kann. Die Wirksamkeit von Prothrombin-Komplex-Konzentraten ist ungenügend nachgewiesen; diese Präparate sind zudem mit einem gewissen Thrombose-Risiko verbunden.
DOAK-Antidote
Der Text im «Drug and Therapeutics Bulletin» enthält noch einen Abschnitt über Idarucizumab (Praxbind®), das Antidot gegen Dabigatran. Dieses Medikament ist in pharma-kritik bereits ausführlicher besprochen worden.(9) Weitere Antidote stehen in der Schweiz noch nicht zur Verfügung.
Kommentar
Es wäre sehr nützlich, Genaueres über das relative Nutzen/Schaden-Verhältnis der verschiedenen DOAK zu wissen. Man könnte vermuten, das Blutungsrisiko von Rivaroxaban sei eher höher als dasjenige der anderen DOAK. Die aktuell vorhandenen Daten sind aber unvollständig und teilweise widersprüchlich – insbesondere weil die DOAK bisher nicht direkt miteinander verglichen worden sind. Eine zuverlässige Beurteilung ist noch kaum möglich.
Ergänzende Lektüre
In pharma-kritik:
Drei neue Antikoagulantien im Vergleich – eine kurze Übersicht zu Apixaban, Dabigatran und Rivaroxaban aus dem Jahr 2013
Idarucizumab– ausführliche Informationen zu diesem Dabigatran-Antidot (Referenz 9)
In infomed-screen:
Mehr Blutungen unter Antirheumatika und oraler Antikoagulation – auch das Blutungsrisiko unter Rivaroxaban wird durch nicht-steroidale Entzündungshemmer erhöht
Nach gastrointestinaler Blutung wieder antikoagulieren – gastrointestinale Blutungen sind bei älteren Leuten ein schlechtes Omen
Literatur
- 1) Anon. Drug Ther Bull 2017; 55: 129-32
- 2) Agarwal S et al. Arch Intern Med 2012; 172: 623-31
- 3) Ruff CT et al. Lancet 2014; 383: 955-62
- 4) Staerk L et al. J Intern Med 2018; 283: 45-55
- 5) Ntaios G et al. Stroke 2017; 48: 2494-503
- 6) Wolfe Z et al. Blood 2017; 130 (Suppl 1): 2387 (Abstract)
- 7) Hohnloser SH et al. Clin Res Cardiol 2017; 106: 618-28
- 8) Doherty JU et al. J Am Coll Cardiol 2017; 69: 871-98
- 9) Röllin A. pharma-kritik 2016; 38: 45-6
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