Alirocumab & Evolocumab
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 38
, Nummer 7, PK998
Redaktionsschluss: 5. Oktober 2016
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2016.998 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Alirocumab (Praluent®) und Evolocumab (Repatha®) werden zur Behandlung der Hypercholesterinämie empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Alirocumab und Evolocumab sind zwei humane monoklonale Antikörper, die gegen die «Proproteinkonvertase-Subtilisin/Kexin-Typ 9» (PCSK9) gerichtet sind. PCSK9 ist eine Serinprotease und koppelt sich an den LDL-Cholesterin-Rezeptor, der auf den Hepatozyten sitzt. Wenn mit PCSK9 verbunden, sind die Rezeptormoleküle nach der Endozytose in vermehrtem Mass dem Abbau durch Lysosomen ausgesetzt – mit der Folge, dass die Zahl der Rezeptormoleküle sinkt und der Spiegel des zirkulierenden LDL-Cholesterins (LDL-C) ansteigt. Familiäre Hypercholesterinämien scheinen zum Beispiel in einem kleinen Prozentsatz der Fälle durch eine verstärkte Aktivität des PCSK9-Gens verursacht zu sein.
Durch die PCSK9-blockierende Wirkung von Alirocumab und Evolocumab wird die Konzentration des LDL-C und anderer Lipide vermindert. Nach Gabe eines PCSK9-Hemmers wird der LDL-C-Spiegel dosisabhängig um bis zu 70% gesenkt, wobei der Fusspunkt nach 1 bis 2 Wochen und die Ausgangskonzentration wieder nach 2 bis 8 Wochen erreicht sind.(1-3)
Pharmakokinetik
PCSK9-Hemmer werden subkutan verabreicht. Die biologische Verfügbarkeit beträgt 85% bei Alirocumab und 72% bei Evolocumab. Die Plasmaspitzenkonzentration misst man nach 3 bis 7 Tagen. Der Abbau erfolgt über eine unspezifische Proteolyse im retikuloendothelialen System. Die Halbwertszeit liegt zwischen 2 und 3 Wochen.(1,2)
Klinische Studien
Zu Alirocumab und Evolocumab liegen rund 20 kontrollierte Untersuchungen vor, wobei bei beiden Medikamenten das Gesamtkollektiv über 4000 Personen zählte.(4) Die Studien befassten sich mit Leuten, die wegen einer familiären Hypercholesterinämie, einer Herz-Kreislauf-Erkrankung oder eines erhöhten kardiovaskulären Risikos als Kandidaten und Kandidatinnen für eine lipidsenkende Therapie zu betrachten waren; in der Regel handelte es sich um Personen, die bereits ein Statin und allenfalls weitere Lipidsenker erhielten (sofern im Folgenden nicht anders erwähnt, wurde diese Behandlung weitergeführt), deren LDL-C-Wert aber trotz dieser Behandlung nicht im Zielbereich von weniger als 2,6 mmol/l (Sekundär-prävention) bzw. 1,8 mmol/l (Primärprävention) lag.
Alirocumab
Das Studienprogramm zu Alirocumab umfasste mehrere Doppelblinduntersuchungen, die unter der Kennung «Odyssey» liefen. Alirocumab wurde mehrheitlich alle 2 Wochen verabreicht, in einer Dosis von 75 oder 150 mg (die Dosis von 150 mg wurde eingesetzt, sofern der LDL-C-Zielwert mit 75 mg nach 12 Wochen nicht erreicht war). Als primärer Endpunkt galt die prozentuale Senkung der LDL-C-Konzentration nach 24 Wochen.
Um Placebovergleiche handelte es sich bei der Studie ODYSSEY COMBO I (n=311; Dauer 1 Jahr)(5) und den beiden gemeinsam publizierten Studien ODYSSEY FH I (n=485; 1½ Jahre) und ODYSSEY FH II (n=247; 1½ Jahre).(6) Sie zeigten, dass Alirocumab die LDL-C-Konzentration signifikant, das heisst auf etwa die Hälfte des Ausgangswertes senkt.
In den anderen Studien wurde Alirocumab vor allem mit Ezetimib (Ezetrol®, 10 mg/Tag), zum Teil auch mit einem Statin verglichen. In der ODYSSEY-MONO-Studie (n=103; 24 Wochen) konzentrierte man sich auf Personen, deren 10-Jahresrisiko für ein tödliches kardiovaskuläres Ereignis sich in einem relativ niedrigen Bereich von 1% und 5% bewegte. Mit Alirocumab wurde die LDL-C-Konzentration um 47% reduziert, mit Ezetimib um 16%.(7)
In der ODYSSEY-COMBO-II-Studie (n=707; 2 Jahre) wurde Alirucumab bei Individuen getestet, die mit einer Herz-Kreislauf-Krankheit oder Risikofaktoren wie zum Beispiel einem Diabetes mellitus bereits eine maximal mögliche Statindosis einnahmen. Hier verminderte sich die LDL-C-Konzentration mit Alirocumab um 51% und mit Ezetimib 21%.(8)
In zwei weiteren Studien wurden ebenfalls Leute mit einer kardiovaskulären Erkrankung oder Risikokonstellation untersucht, die mit einem Statin vorbehandelt waren. In der ODYSSEY-OPTIONS-I-Studie (n=355; 24 Wochen) bestand die Ausgangsbehandlung aus Atorvastatin (Sortis® u.a., 20 oder 40 mg/Tag). Die beiden Dosierungen bildeten die Obergruppen, die man in je drei Untergruppen aufteilte: in der ersten Untergruppe wurde die Atorvastatin-Dosis verdoppelt, in der zweiten zusätzlich Alirocumab verordnet und in der dritten Ezetimib; aus denjenigen Personen, die ursprünglich 40 mg Atorvastatin pro Tag eingenommen hatten, wurde noch eine vierte Untergruppe gebildet, in der ein Wechsel von Atorvastatin auf Rosuvastatin (Crestor®, 40 mg/Tag) vorgenommen wurde. Die LDL-C-Konzentration wurde folgendermassen gesenkt: mit Atorvastatin 40 mg um 5%, mit Atorvastatin 80 mg um 5%, mit Alirocumab/Atorvastatin 20 mg um 44%, mit Alirocumab/Atorvastatin 40 mg um 54%, mit Ezetimib/Atorvastatin 20 mg um 21%, mit Ezetimib/Atorvastatin 40 mg um 23% und mit Rosuvastatin um 21%.(9)
Die ODYSSEY-OPTIONS-II-Studie (n=298; 24 Wochen) unterschied sich dadurch, dass die Ausgangsbehandlung aus Rosuvastatin (10 bis 20 mg/Tag) statt aus Atorvastatin bestand. Auch hier zeigte sich, dass die Zugabe von Alirocumab die LDL-C-Konzentration signifikant stärker reduziert als die Zugabe von Ezetimib oder die Dosisverdopplung des Statins.(10)
Die ODYSSEY-ALTERNATIVE-Studie (n=310; 24 Wochen) widmete sich Leuten, bei denen man eine Statinunverträglichkeit vermutete. Die erste Gruppe bekam Alirocumab, die zweite Ezetimib, und in der dritten wurde – zur Kontrolle, ob die Studienpopulation korrekt ausgewählt worden war – eine Reexposition mit Atorvastatin (20 mg/Tag) durchgeführt. Auch hier senkte Alirocumab die LDL-C-Konzentration signifikant mehr als Ezetimib. (Rund zwei Drittel der mit Atorvastatin Behandelten konnten allerdings die Studie beenden, so dass bei einer Mehrheit der Studienpopulation wahrscheinlich keine wirkliche Statinunverträglichkeit vorlag.)(11)
Die bislang grösste Studie war ODYSSEY LONG TERM (n=2310; 1½ Jahre), ein Placebovergleich bei Personen mit familiärer Hypercholesterinämie oder vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankung, die unter maximaler Statintherapie standen. Sie bestätigte die deutlich stärkere LDL-C-senkende Wirkung von Alirocumab gegenüber Placebo. In einer Post-hoc-Analyse wurde auch die Häufigkeit relevanter kardiovaskulärer Ereignisse erfasst; sie betrug in der Alirocumab-Gruppe 1,7% und in der Placebo-Gruppe 3,3%.(12)
Evolocumab
Zu Evolocumab sind sieben Phase-III-Studien veröffentlicht worden (die mit Namen von berühmten Naturwissenschaftern bezeichnet worden waren). Primärer Endpunkt war in der Regel ebenfalls die prozentuale Senkung der LDL-C-Konzentration, die jedoch im Gegensatz zu den Alirocumab-Studien nach 12 und nicht nach 24 Wochen erfasst wurde. Die verwendeten Evolocumab-Dosen betrugen entweder 140 mg alle 2 Wochen oder 420 mg monatlich.
In zwei Untersuchungen wurde Evolocumab mit Placebo verglichen. In der RUTHERFORD-2- (n=329; 12 Wochen)(13) und DESCARTES-Studie (n=901; 52 Wochen)(14) wies man nach, dass sich mit Evolocumab der LDL-C-Spiegel signifikant und um über 50% vermindern lässt.
Die übrigen Studien stützten sich auf Ezetimib (10 mg/Tag) als Vergleichssubstanz. In die MENDEL-2-Studie (n=614; 12 Wochen) wurden Personen mit einer Hypercholesterinämie aufgenommen, deren 10-Jahresrisiko auf weniger als 10% geschätzt wurde und die noch keinen Lipidsenker bekommen hatten. Mit beiden getesteten Evolocumab-Dosen nahm der LDL-C-Spiegel signifikant stärker ab als mit Ezetimib.(15) Ein ähnliches Bild lieferte die LAPLACE-2-Studie (n=1896; 12 Wochen), in der ergänzend zu einer niedrig- oder hochdosierten Statintherapie Evolocumab, Ezetimib oder Placebo verschrieben worden war,(16) sowie die GAUSS-2- (n=307; 12 Wochen)(17) und GAUSS-3-Studie (n=218; 24 Wochen),(18) in denen man Leute mit einer Statinunverträglichkeit untersucht hatte.
Für die beiden offen geführten und gemeinsam publizierten Studien OSLER-1 und OSLER-2 rekrutierte man insgesamt 4465 Individuen, die schon an verschiedenen Phase-II- und Phase-III-Studien teilgenommen hatten. Alle Teilnehmenden erhielten eine klassische lipidsenkende Therapie, ein Teil zusätzlich Evolocumab. Die Studien dienten primär dazu, die Nebenwirkungen zu quantifizieren. In einer sogenannt explorativen Analyse wurde auch die Rate von kardiovaskulären Ereignissen aufgezeichnet, die innerhalb eines Jahres aufgetreten waren: sie betrug unter Evolocumab ungefähr 1% und in der Kontrollgruppe 2%.(19)
Unerwünschte Wirkungen
Als häufigste Nebenwirkungen von PCSK9-Hemmern wurden Schmerzen und Lokalreaktionen an der Injektionsstelle, Infekte der oberen Luftwege, Übelkeit, Stuhlunregelmässigkeiten, Müdigkeit, Kopf-, Bauch-, Muskel- und Gelenkschmerzen beobachtet. Auch über Überempfindlichkeitsreaktionen und seltene Fälle von ophthalmologischen Problemen (Sehstörungen u.a.) wurde berichtet. Bei einem einstelligen Prozentsatz der Behandelten bildeten sich Antikörper gegen den PCSK9-Hemmer. Bei einigen Personen traten neurokognitive Störungen (Amnesie, Gedächtnisschwäche, Verwirrtheit) auf, was möglicherweise Ausdruck einer ausgeprägten LDL-C-Senkung ist.(1,2)
Interaktionen
Statine und andere Lipidsenker vermindern bei PCSK9-Hemmern die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve – was aber keine klinischen Konsequenzen hat. Im Übrigen sind keine Interaktionen dokumentiert.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
PCSK9-Hemmer sind zugelassen bei Personen mit einer kardiovaskulären Erkrankung oder einer familiären Hypercholesterinämie, bei denen unter höchstmöglicher Statindosis eine weitere Senkung der LDL-C-Konzentration wünschbar erscheint. Alirocumab (Praluent®) wird als Fertigspritze und Pen zu 75 und 150 mg angeboten, Evolocumab (Repatha®) als Fertigspritze und Pen zu 140 mg; beide werden subkutan injiziert. Alirocumab wird alle zwei Wochen verabreicht, in einer Anfangsdosis von 75 mg, die sich nötigenfalls auf 150 mg steigern lässt; Evolocumab kann entweder 2-wöchentlich (140 mg) oder monatlich (420 mg) verabreicht werden; bei familiärer Hypercholesterinämie kann die Dosis bei Bedarf auf 420 mg alle 2 Wochen erhöht werden. Bei stark eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion sollen PCSK9-Hemmer nur mit Vorsicht eingesetzt werden. Zur Anwendung bei Kindern unter 12 Jahren, schwangeren und stillenden Frauen existieren keine Daten. (Ohnehin gelten Statine, mit denen PCSK9-Hemmer zu kombinieren sind, in der Schwangerschaft und Stillzeit als kontraindiziert.)
Alirocumab und Evolocumab sind momentan nicht kassenzulässig; der publizierte Preis beträgt knapp 300 Franken pro Spritze, was sich auf Jahreskosten von rund 7500 Franken summiert. Zum Vergleich: Für hochdosierte Statine bezahlt man maximal 250 CHF (Atorvastatin-Generikum, 80 mg/Tag) bis 1375 CHF (Rosuvastatin, 40 mg/Tag), für Ezetimib 685 CHF pro Jahr.
Kommentar
Es ist nicht zu bestreiten, dass PCSK9-Hemmer wirksam zu einer LDL-C-Senkung beitragen, wenn sich Zielwerte mit einer herkömmlichen Behandlung nicht erreichen lassen. (Dass in den klinischen Studien die Einschlusskriterien zum Teil eher grosszügig formuliert waren, ändert diese Grundeinschätzung nicht.) Allerdings ist die LDL-C-Senkung lediglich ein Surrogatendpunkt, und die wichtigste Frage – ob PCSK9-Hemmer auch Morbidität und Mortalität günstig zu beeinflussen vermögen – bleibt offen, bis die Ergebnisse der entsprechenden Studien vorliegen. Langzeitdaten sind auch wichtig, weil eine ausgeprägte Reduktion des LDL-Cholesterins möglicherweise nicht nur mit positiven Effekten verbunden ist.
Wie es aussieht, werden mit den PCSK9-Hemmern bei der lipidsenkenden Therapie preislich neue Dimensionen eröffnet. Eine sich auf die USA beziehende Analyse schätzt, dass PCSK9-Hemmer die Gesamtausgaben für verschreibungspflichtige Medikamente um ein Drittel (!) verteuern und sie zwei Drittel billiger sein müssten, um als kosteneffizient gelten zu können.(20)
Literatur
- 1) EMA-Dokument (Alirocumab): http://pkweb.ch/2ejUF6k
- 2) EMA-Dokument (Evolocumab): http://pkweb.ch/2ejTvHZ
- 3) Giugliano RP, Sabatine MS. J Am Coll Cardiol 2015; 65: 2638-51
- 4) Ndegwa et al. CADTH Issues Emerg Health Technol 2015; (145): 1-33
- 5) Kereiakes DJ et al. Am Heart J 2015; 169: 906-15
- 6) Kastelein JJ et al. Eur Heart J 2015; 36: 2996-3003
- 7) Roth EM et al. Int J Cardiol 2014; 176: 55-61
- 8) Cannon CP et al. Eur Heart J 2015; 36: 1186-94
- 9) Bays H et al. J Clin Endocrinol Metab 2015; 100: 3140-8
- 10) Farnier M et al. Atherosclerosis 2016; 244: 138-46
- 11) Moriarty PM et al. J Clin Lipidol 2015; 9: 758-69
- 12) Robinson JG et al. N Engl J Med 2015; 372: 1489-99
- 13) Raal FJ et al. Lancet 2015; 385: 331-40
- 14) Blom DJ et al. N Engl J Med 2014; 370: 1809-19
- 15) Koren MJ et al. J Am Coll Cardiol 2014; 63: 2531-40
- 16) Robinson JG et al. JAMA 2014; 311: 1870-82
- 17) Stroes E et al. J Am Coll Cardiol 2014; 63: 2541-8
- 18) Nissen SE et al. JAMA 2016; 315: 1580-90
- 19) Sabatine MS et al. N Engl J Med 2015; 372: 1500-9
- 20) Kazi DS et al. JAMA 2016; 316: 743-53
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