Medikamentös induzierte periphere Neuropathien
- Autor(en): Renato L. Galeazzi
- pharma-kritik-Jahrgang 35
, PK917, Online-Artikel
Redaktionsschluss: 15. Januar 2014
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2013.917
Sucht man auf der Infomed-Website nach «Neuropathien», so werden etwa 70 Resultate angeboten. Die meisten davon beziehen sich auf Artikel, in welchen von einzelnen Medikamenten verursachte Polyneuropathien beschrieben werden. Eine Übersicht dieser anscheinend häufigen Nebenwirkung erschien jedoch noch nie in der «pharma-kritik».
Im französischen Schwesterjournal «La Revue Prescrire» wurde im April 2013 eine Zusammenstellung über diese unangenehme und gefährliche Nebenwirkung veröffentlicht. (1) Wir nehmen dies zum Anlass, diese Zusammenstellung hier zusammenzufassen.
Definition und Symptombeschreibung
Unter Neuropathien verstehen wir hier Schädigungen der Nervenstränge, die das zentrale Nervensystem verlassen. Der N. opticus und N. olfactorius gehören nicht dazu. Befallen werden sensible, motorische und autonome Nerven; die Schädigung ist oft gemischt. Die Prävalenz ist schlecht studiert, soll aber zwischen 2% (ohne Risikofaktoren) bis 14% (Risikofaktoren vorhanden) liegen.
Sensible Neuropathien, häufig die ersten Symptome von Neuropathien, machen sich durch verschiedene Sensationen bemerkbar: unangenehmes Gefühl, Ameisenlaufen, Pruritus, brennende oder stechende Schmerzen, Sensibilitätsverlust, meist symmetrisch auftretend. Die Tiefensensibiltät (Stimmgabel!) nimmt ab. Die Symptome sind bei einer Progression der Krankheit normalerweise aufsteigend.
Die motorischen Neuropathien verursachen Muskelschwäche und es werden fehlende Sehnenreflexe gefunden.
Ein Befall der autonomen Nerven oder Nervenanteile zeigt sich in fehlendem Schwitzen der versorgten Areale, in Blutdruckabfall bis zu Synkopen, in Hypothermien, Sehstörungen, Erektionsschwäche. Intestinaler Befall führt zu Passagestörungen, seltener zu Durchfällen.
Das Ausmass der Störungen und der zeitliche Verlauf sind sehr variabel, meist langsam zunehmend, aufsteigend. Bei Weiterbestehen der Ursachen können sie bis zur Invalidität führen.
Ursachen
Häufigste Ursachen sind wohl der Diabetes mellitus und der Alkoholismus, aber auch die «Gammopathien» und Paraneoplasien. Seltener sind infektiöse Ursachen (Borreliose, HIV), weitere metabolische Krankheiten (Hypothyreose, Vitamin-B12-Mangel, Porphyrien) und toxische Substanzen (Arsen, Blei, Thallium, Pestizide). Häufig werden Autoimmunprozesse als Ursache diskutiert. Oft lässt sich aber keine Ursache identifizieren.
Uns interessieren hier die medikamentös induzierten Neuropathien, über deren Häufigkeit im Allgemeinen kaum etwas bekannt ist, höchstens für die einzelnen Medikamente. Es sind vor allem onkologische Medikamente für Neuropathien verantwortlich, etwas seltener Antibiotika und andere Gruppen.
Medikamente als Ursache von Neuropathien
Der Beginn Arzneimittel-bedingter Neuropathien ist oft langsam und subtil, gelegentlich aber rasch und heftig. Neuropatien hängen in der Regel von der Dosis und der Dauer der Verabreichung ab. Meistens, aber nicht immer, bessern sie sich nach Therapieabbruch. Der Mechanismus der Schädigung ist fast immer unbekannt.
Onkologische Medikamente
Thalidomid (früher: Contergan®) und Lenalidomid (Revlimid®) werden vor allem beim multiplen Myelom verschrieben. Die Neuropathien betreffen dabei vor allem sensorische Nerven und verursachen Sensibilitätsstörungen und Schmerzen in den Füssen, Beinen und Händen. Die Häufigkeitsangaben variieren, es werden bis zu 70% angegeben (unter Thalidomid). Die Störungen sind auch nach dem Absetzen meist nicht reversibel. Auch Hörverluste sind häufiger unter Thalidomid als unter Placebo. Unter dem Analogon Lenalidomid werden deutlich weniger Neuropathien beschrieben.
Bortezomib (Volcade®) wird in verschiedenen Kombinationstherapien bei multiplem Myelom angewendet. Es verursacht in bis 40% sensorische Neuropathien, abhängig von der akkumulierten Dosis. Diese Neuropathien sind langsam reversibel nach dem Absetzen und treten vor allem bei Personen auf mit vorbestehender Neuropathie.
Cisplatin, Oxaliplatin (Eloxatin® und Generika), Carboplatin (Praplatine® und Generika): Cisplatin verursacht dosisabhängig reversible sensible Neuropathien. Die Rückbildung dauert gelegentlich über ein Jahr. Diese Nebenwirkung ist seltener bei Carboplatin. Oxaliplatin hingegen erzeugt bei etwa 90% der Behandelten eine von der kumulativen Dosis abhängige Neuropathie. In den Stunden nach der Infusion treten in den Extremitäten Sensibilitätsstörungen auf. Es sind auch laryngopharyngeale Symptome beschrieben, wie Schluckstörungen und Atemschwierigkeiten.
Taxane: Auch hier sind dosisabhängige Neuropathien, meist sensorische, beschrieben. Beim Paclitaxel (Taxol® u.a.) sind sie bei wöchentlicher Verabreichung während 3 Stunden ausgeprägter, als wenn während 24 Stunden infundiert wird. In einer Studie mit Eribulin (Halaven®) wurde ein Persistieren der Störung noch nach 9 Monaten gefunden.
Vinca-Alkaloide: Unter Vincristin (Oncovin® u.a.) und etwas weniger unter Vinblastin (Velbe®) wurden ganz verschiedene neurologische Symptome beschrieben, teilweise bis zur Taubheit und schweren Darmpassagestörungen.
Andere Chemotherapeutika: Bei vielen anderen Substanzen mit onkologischen Indikationen wurden ebenfalls neurotoxische Fogen beobachtet, meist reversibel nach Therapie-Abbruch.
Antibiotika und andere anti-infektiöse Substanzen
Die Liste der zum Teil neurotoxischen Substanzen in der Gruppe der anti-infektiösen Medikamente ist lang:
Isoniazid (Rimifon® u.a.) sollte stets mit Vitamin B6 gegeben werden, um die häufig vorkommenden Neuropathien zu vermeiden. Unter den antituberkulösen Arzneien wurden auch für Ethionamid und Ethambutol (Myambutol®) Neuropathien beschrieben.
Nitrofurantoin (Furadantin® u.a.) kann Ursache schwerer und zum Teil irreversibler Nervenschädigungen sein.
Weitere Substanzen, bei denen Neuropathien beschrieben worden sind:
Metronidazol (Flagyl® u.a.), Mefloquin (Lariam® u.a.) , Itraconazol (Sporanox® u.a.), Griseofulvin, Flucytosin (Acontil®), Amphotericin B (Fungizon® u.a.), Dapson, Linezolid, Aminoglykoside, Chinolone.
Antiretrovirale Medikamente:
Didanosid (Videx®) soll in bis 9% zu Neuropathien führen, insbesondere in Kombination mit Tenofovir (Viread® und in Kombinationspräparaten). Auch Stavudin Zerit®) und Etravirin (Intelence®) werden als Neuropathie-Ursache vermutet. Unter den Proteasehemmern Saquinavir (Invirase®) und Ritonavir(Norvir® und im Kaletra®)treten häufig sensible Störungen auf, die aber trotz Weiterführen der Therapie reversibel sein sollen.
Kardiovaskuläre Medikamente
Kardiovaskulär wirksame Medikamente verursachen selten neurologische Symptome, am meisten noch Flecainid (Tambocor®), Amiodaron (Cordarone® u.a.) und Disopyramid.
Antirheumatika
Leflunomid (Arava® u.a.): Die Angaben zur Häufigkeit von Neuropathien bei diesem Medikament sind sehr unterschiedlich. Die neurotoxischen Auswikrungen sollen ausgeprägt und häufig und, besonders nach längerer Verabreichung, höchst langsam reversibel sein.
Penicillamin, Goldsalze, Hydroxychloroquin, Colchicin und Mesalazin (Asacol® und Generika) werden selten impliziert.
Varia
Die Liste der Medikamente, die „oft“ bis „gelegentlich“ neurotoxisch sind ist lang und wahrscheinlich unvollständig. Im hier zusammengefassten Artikel werden noch weitere erwähnt: siehe Tabelle.
Vorgehen
Wichtig ist es, die Medikamente zu kennen, welche für Neuropathien verantwortlich sein können. Grösste Vorsicht ist geboten bei vorbestehender Nervenschädigung und beim Vorliegen anderer Risikofaktoren, wie Diabetes mellitus. Die gleichzeitige Verabreichung mehrerer neurotoxischer Medikamente ist zu vermeiden. Der Alkoholkonsum soll stark eingeschränkt werden. Patientinnen und Patienten müssen über mögliche Symptome aufgeklärt und die Therapie soll beim ersten Auftreten von Symptomen möglichst abgesetzt werden.
Zusammengefasst und ergänzt von Renato L. Galeazzi
Literatur
- 1) Anon. Rev Prescrir 2013; 33: 270-5 (Volltext nicht ohne Abo verfügbar)
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