Oxycodon/Naloxon
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 34
, Nummer 2, PK872
Redaktionsschluss: 24. Mai 2012
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2012.872 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Oxycodon/Naloxon (Targin®) wird zur Behandlung von mittelstarken bis starken Schmerzen empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Die Oxycodon/Naloxon-Kombination enthält die beiden Wirkstoffe in retardierter Form in einem fixen Mengenverhältnis von 2 zu 1. Oxycodon (als Monosubstanz: Oxycontin®, Oxynorm®), dessen erstmalige Herstellung nahezu 100 Jahre zurückliegt, leitet sich vom natürlichen Opiat Thebain ab. Oxycodon bindet sich sowohl an opioide my-Rezeptoren als auch – in geringerem Mass – an kappa- und delta-Rezeptoren und unterscheidet sich somit nicht wesentlich von Morphin. Einzig die analgetische Potenz liegt bei Oxycodon etwas höher, was sich im Vergleich zu Morphin in einer 1,5- bis 2-mal niedrigeren oralen Äquivalenzdosis äussert.(1-3)
Naloxon, ein synthetisches Derivat von Oxymorphon, wirkt mit hoher Affinität als kompetitiver Antagonist an den my-, kappa- und delta-Rezeptoren. Es steht als Monosubstanz nur zur parenteralen Verabreichung zur Verfügung und wird bei Opiat-Überdosierungen oder -Intoxikationen benutzt, insbesondere, um eine übermässige Sedation oder eine Atemdepression aufzuheben.(4)
Pharmakokinetik
Wird Oxycodon in der retardierten Form eingenommen, beobachtet man eine biphasische Resorption: in der ersten, raschen Phase wird etwa ein Drittel der Dosis aufgenommen, in der zweiten, langsameren Phase der Rest. In der Summe ergibt sich ein Plasmaspitzenwert nach 2 bis 3 Stunden. Die biologische Verfügbarkeit von Oxycodon liegt zwischen 60 und knapp 90%. Es wird in der Leber über CYP3A4 und in kleinerem Umfang über CYP2D6 abgebaut. Die Metaboliten scheinen nicht massgeblich zur Wirkung beizusteuern. Die Halbwertszeit von Oxycodon beträgt 3 bis 5 Stunden, bei den Retardtabletten ist sie scheinbar auf 8 Stunden verlängert. Frauen weisen eine um 25% niedrigere Oxycodon-Clearance auf als Männer.
Naloxon ist dadurch gekennzeichnet, dass nach oraler Einnahme ein ausgeprägter «First-pass»-Effekt stattfindet, was mit einer biologischen Verfügbarkeit von weniger als 3% einhergeht. Das bedeutet, dass sich die antagonisierende Wirkung von oral verabreichtem Naloxon vor allem im Darm entfaltet. Naloxon wird hauptsächlich via Glukuronidierung abgebaut, mit einer Halbwertszeit von 1 bis 1½ Stunden. Eine Einschränkung der Leber- oder Nierenfunktion bewirkt sowohl bei Oxycodon wie bei Naloxon eine Zunahme der Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve.(5,6)
Klinische Studien
Es sind vier Doppelblindstudien erwähnenswert, die – bei Personen mit chronischen und grösstenteils nicht-krebsbedingten Schmerzen durchgeführt – die klinischen Aspekte des Oxycodon/Naloxon-Retardpräparates beleuchten. In allen Studien ging der Doppelblind- eine Titrierungsphase voraus, in der man die Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf eine stabile Schmerzmitteldosis einzustellen versuchte.
In einer Dosisfindungsstudie verteilte man 196 Personen, die unter Oxycodon standen (2-mal 20 bis 40 mg/Tag), auf vier Gruppen. In drei wurde für vier Wochen zusätzlich retardiertes Naloxon verordnet (2-mal 5, 10 oder 20 mg/Tag), in der vierten lediglich Placebo. Man stellte fest, dass die Zugabe von Naloxon die schmerzlindernde Wirkung von Oxycodon nicht abschwächte und dass die beiden höheren Naloxon-Dosen die Obstipationsneigung signifikant verminderten. Je höher die Naloxon-Dosis in Bezug zur Oxycodon-Dosis lag, umso geringer war die Obstipationsneigung, wobei man sich bei einer Naloxon-Dosis, die 50% der Oxycodon-Dosis betrug, einem Plafond näherte.(7) Die weiteren klinischen Studien wurden dann mit diesem 2:1-Dosisverhältnis durchgeführt.
Der Einfluss auf die Schmerzlinderung stand in folgender Studie im Fokus: 464 Patienten und Patientinnen mit chronischen Lumbalschmerzen erhielten 12 Wochen lang Oxycodon/Naloxon (2-mal 10/5 oder 20/10 mg/Tag), Oxycodon allein (2-mal 10 oder 20 mg/Tag) oder Placebo. Beide aktiven Behandlungen halfen gegen die Schmerzen deutlich besser als Placebo. Der primäre Endpunkt – eine als ungenügend eingestufte Schmerzlinderung an zwei aufeinanderfolgenden Tagen – trat unter der Oxycodon-Monotherapie etwas seltener auf als unter Oxycodon/Naloxon; der Unterschied war aber nicht signifikant.(8)
In den zwei anderen Studien wurde die Oxycodon/Naloxon-Kombination primär in ihren Auswirkungen auf den Darm geprüft, und zwar bei Personen, die wegen einer Opioidbehandlung bereits an Verstopfung litten. So war auch in beiden Studien die Verwendung von Bisacodyl (Dulcolax® Bisacodyl u.a.) sowie von Faser- oder Quellmitteln als Laxantien erlaubt. Die Darmtätigkeit wurde anhand des sogenannten «Bowel Function Index» beurteilt; hierbei wird die Darmfunktion unter drei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet (Anstrengung beim Stuhlgang; Gefühl der unvollständigen Darmentleerung; subjektive Einschätzung der Verstopfung) und am Schluss auf einer Skala von 0 bis 100 Punkten bemessen. Die eine Studie zählte 322 Personen, denen man Oxycodon/Naloxon (durchschnittliche Oxycodon-Dosis: 32,2 mg/Tag) oder Oxycodon allein (durchschnittlich 33,0 mg/Tag) verabreichte. Nach 12 Wochen war der «Bowel Function Index» in der Oxycodon/Naloxon-Gruppe von 62 auf 31 Punkte gefallen, in der Oxycodon-Gruppe von 61 auf 47 Punkte.(9) Die andere Studie (n=265) lieferte ein ähnliches Bild; sie war nach dem gleichen Schema durchgeführt worden, mit dem Unterschied, dass die durchschnittliche Oxycodon-Dosis mehr als doppelt so hoch war.(10) Als Ergebnis der beiden Studien liegt auch eine – vorgängig bereits geplante – zusammengefasste Analyse vor, in der sich zeigen liess, dass die schmerzlindernde Wirkung von Oxycodon/Nalaxon gegenüber der von Oxycodon nicht unterlegen ist.(11)
Unerwünschte Wirkungen
Bei der Oxycodon/Naloxon-Kombination ist von den gleichen Nebenwirkungen auszugehen wie bei alleinigem Oxycodon. So muss man insbesondere mit Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Sedation und Atemdepression rechnen. Auch wenn Naloxon einer Verstopfung entgegenwirkt, kommt dieses Problem unter Oxycodon/Naloxon immer noch häufig vor: in einem nicht vorselektionierten Kollektiv trat eine Obstipation (weniger als drei spontane und vollständige Darmentleerungen pro Woche) unter Oxycodon/Naloxon bei 27% und unter Oxycodon bei 34% der Behandelten auf.(6)
Über eigenständige Nebenwirkungen von Naloxon – insbesondere wenn es nur in kleiner Menge in den systemischen Kreislauf gelangt – existieren keine Angaben. Wenn allerdings Oxycodon/Naloxon in sehr hoher Dosis verabreicht wird, ist in Betracht zu ziehen, dass die resorbierte Naloxon-Menge genügt, um die analgetische Wirkung von Oxycodon zu unterdrücken.(12)
Interaktionen
Wie alle Opioide kann Oxycodon die sedierende Wirkung von anderen Substanzen verstärken. Da CYP3A4 und CYP2D6 am Abbau von Oxycodon beteiligt sind, werden Hemmer oder Induktoren dieser Zytochrome zu Veränderungen des Oxycodon-Metabolismus führen können.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Die Retardtabletten von Oxycodon/Naloxon (Targin®) sind in vier Wirkstärken erhältlich (5/2,5 mg, 10/5 mg, 20/10 mg und 40/20 mg) und für die Behandlung von längerdauernden mittelstarken bis starken Schmerzen vorgesehen; sie dürfen nicht zerbrochen oder aufgelöst werden. Die Wahl der Anfangsdosis hängt davon ab, ob die betreffende Person bereits ein Opioid erhalten hat. Als maximale Tagesmenge sind 80/40 mg festgelegt. Sind die Schmerzen damit ungenügend behandelt, sollte zusätzlich nur noch Oxycodon verordnet werden; Oxycodon ist auch zu verwenden, wenn unter der Oxycodon/Naloxon-Kombination Durchbruchschmerzen auftreten. Bei eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion sollte Oxycodon/Naloxon in reduzierter Dosis, in einem fortgeschrittenen Stadium gar nicht mehr verabreicht werden. Bei schwangeren und stillenden Frauen sowie bei Kindern ist das Medikament kontraindiziert.
Oxycodon/Naloxon wird von den Krankenkassen vergütet und untersteht der Betäubungsmittelpflicht. Monatlich kostet Oxycodon/Naloxon (2-mal 5/2,5 mg bis 40/20 mg) CHF 62.50 bis 257.70, was denselben Preis bedeutet wie die entsprechende Menge von retardiertem Oxycodon allein. Mit retardiertem Morphin kann die Behandlung um ungefähr 40% billiger durchgeführt werden.
Kommentar
Es ist nicht zu bestreiten, dass man das Risiko einer opioidinduzierten Obstipation mit der Oxycodon/Naloxon-Kombination etwas vermindern (jedoch nicht eliminieren) kann. Wie es scheint, ist der Nutzen grösser, wenn bereits eine opioidinduzierte Obstipation bekannt ist, als in einem Durchschnittskollektiv; im ersten Fall kommt man im Vergleich zur Oxycodon-Monotherapie auf eine «number needed to treat» von 4, im zweiten Fall von 14. Diese Zahlen, anhand klinischer Studien errechnet, sind für den medizinischen Alltag aber sicher zu optimistisch; das lässt sich allein daraus ableiten, dass in keiner der Oxycodon/Naloxon-Studien eine konsequente Laxantienprophylaxe durchgeführt wurde, wie sie eigentlich zu einer längerfristigen Opioidtherapie gehörte.
Auch ein Einwand, die Oxycodon/Naloxon-Kombination sei nicht einmal mit einer Verteuerung der Behandlung verbunden, stünde auf wackligen Beinen. Das mag gelten für die Schweiz, wenn man nur mit dem Oxycodon-Monopräparat vergleicht. In Deutschland zum Beispiel, wo zahlreiche Generika von Oxycodon-Monopräparaten angeboten werden, zeichnet sich schon ein anderes Bild.
Die Einführung der Oxycodon/Naloxon-Kombination ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass ein lukrativer Markt winkt; Oxycodon dürfte unter den starken Opioiden diejenige Substanz sein, die in den letzten Jahren weltweit die grösste Umsatzzunahme erfahren hat, wobei man die Substanz besonders im Bereich der nicht-krebsbedingten Schmerzen zu positionieren versuchte. Dass diese zunehmende und oft leichtfertige Verschreibung von starken Opioiden Sorge bereitet, wurde in der «pharma-kritik» auch schon angetönt.(13)
Literatur
- 1) Riley J et al. Curr Med Res Opin 2008; 24: 175-92
- 2) Leppert W. Pharmacol Rep 2010; 62: 578-91
- 3) Ritzmann P. pharma-kritik 2008; 16: 61-2
- 4) Handal KA et al. Ann Emerg Med 1983; 12: 438-45
- 5) Lugo RA, Kern SE. J Pain Palliat Care Pharmacother 2004; 18: 17-30
- 6) http://www.tga.gov.au/pdf/auspar/auspar-targin.pdf
- 7) Meissner W et al. Eur J Pain 2009; 13: 56-64
- 8) Vondrackova D et al. J Pain 2008; 9: 1144-54
- 9) Simpson K et al. Curr Med Res Opin 2008; 24: 3503-12
- 10) Löwenstein O et al. Expert Opin Pharmacother 2009; 10: 531-43
- 11) Löwenstein O et al. BMC Clin Pharmacol 2010; 10: 12
- 12) Mercadante S et al. Support Care Cancer 2011; 19: 1471-2
- 13) Gysling E. pharma-kritik 2010; 32: 19-20
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