Tapentadol
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 34
, Nummer 2, PK871
Redaktionsschluss: 24. Mai 2012
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2012.871 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Tapentadol (Palexia®) ist ein neues Analgetikum zur Akutbehandlung von mittelstarken bis starken Schmerzen.
Chemie/Pharmakologie
Tapentadol ist ein zentral wirkendes Schmerzmittel, das eine ähnliche chemische Struktur und insbesondere eine ähnliche Wirkungsweise wie Tramadol (Tramal® u.a.) aufweist. Beide Substanzen wirken einerseits als Agonisten an den opioiden my-Rezeptoren, andererseits als Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; diesen beiden Mechanismen werden die schmerzlindernden Eigenschaften zugeschrieben. In geringerem Mass wird auch die Serotonin-Wiederaufnahme blockiert, was für die Wirkung jedoch nicht als bedeutsam betrachtet wird.
Die Affinität von Tapentadol zum my-Rezeptor ist 20- bis 50-mal geringer als diejenige von Morphin. Im Tierversuch zeigte sich Tapentadol in seiner analgetischen Potenz aber nur etwa 2- bis 3-mal schwächer als Morphin – was dafür spricht, dass die Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung für die Wirkung einen wichtigen Beitrag leistet.(1,2)
Pharmakokinetik
Nach oraler Verabreichung von Tapentadol wird nach 1 bis 1½ Stunden der maximale Plasmaspiegel gemessen. Wegen eines beträchtlichen «First-pass»-Metabolismus erreicht die biologische Verfügbarkeit nur 32%; in Kombination mit einer fettreichen Mahlzeit erhöht sie sich um ein Viertel. Der grösste Teil von Tapentadol wird in der Leber glukuronidiert und sulfatiert (zu Tapentadol-O-Glukuronid und -Sulfat, beide pharmakologisch nicht aktiv). Ungefähr 15% der Dosis wird über die Zytochrome CYP2C9/19 und CYP2D6 demethyliert und hydroxyliert. Die Elimination der Metaboliten findet vor allem über die Nieren statt. Die Halbwertszeit liegt bei 4 bis 5 Stunden. Bei verminderter Leberfunktion nimmt die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve um das 2- bis 4-fache zu; eine Niereninsuffizienz beeinflusst dagegen die Pharmakokinetik nicht nennenswert.(1,2)
Klinische Studien
Die Wirksamkeit von Tapentadol ist in mehreren Doppelblindstudien untersucht worden, die fast ausnahmslos placebokontrolliert abliefen. 399 Personen, die sich einer Weisheitszahn-Extraktion unterziehen mussten, beteiligten sich an einer Dosisfindungsstudie, in der man acht Gruppen bildete: in fünf wurden verschiedene Tapentadol-Einzeldosen verabreicht (25, 50, 75, 100 oder 200 mg), in den drei anderen Morphin (60 mg), Ibuprofen (Brufen® u.a., 400 mg) oder Placebo. Über 8 Stunden gemessen, erzielte man mit Ibuprofen die beste, mit Placebo die geringste Schmerzlinderung. Bei Tapentadol zeigte sich eine dosisabhängige Wirkung, wobei die Schmerzlinderung mit der 200-mg-Dosis etwas stärker, mit den anderen vier Dosen schwächer war als mit Morphin.(3)
In den Phase-III-Studien verglich man Tapentadol durchweg mit nicht-retardiertem Oxycodon (Oxynorm®). Die Dosen wurden dabei gemäss Randomisierung fix gehalten, das Verabreichungsintervall konnte indessen dem Bedarf angepasst werden (4- bis 6-stündliche Gabe). Zwei Untersuchungen befassten sich mit postoperativen Schmerzen nach einem Eingriff wegen eines Hallux valgus. In der einen Studie (n=602) wurde Tapentadol in einer Dosis von 50, 75 und 100 mg, Oxycodon in einer Dosis von 15 mg geprüft;(4) in der anderen Studie (n=900) wählte man für Tapentadol 50 und 75 mg und für Oxycodon 10 mg.(5) Bezogen auf die Schmerzlinderung während der ersten 48 Stunden ergab sich Folgendes: Im Vergleich zu 15 mg Oxycodon erfüllte nur die 100-mg-Dosis von Tapentadol das «Non-inferiority»-Kriterium; im Vergleich zu 10 mg Oxycodon war dies sowohl mit der 50-mg- wie mit der 75-mg-Dosis von Tapentadol der Fall.
In zwei weiteren Studien verabreichte man Tapentadol bei arthrosebedingten oder anderen chronischen Schmerzen. Die eine dauerte 10 Tage und stützte sich auf 659 Patienten und Patientinnen mit schwerer Cox- oder Gonarthrose, die auf eine Prothesenimplantation warteten. Auch hier wurden die beiden verwendeten Tapentadol-Dosen (50 und 75 mg) gegenüber 10 mg Oxycodon als nicht-unterlegen bewertet.(6) Die andere Studie umfasste 849 Personen, die an chronischen Lumbalschmerzen oder an einer Hüft- oder Kniearthrose litten. Sie erstreckte sich über 90 Tage und verglich in der Hauptsache die Verträglichkeit von Tapentadol und Oxycodon; die Untersuchung der Wirksamkeit wurde nur als sekundärer Endpunkt gewichtet. Mit Tapentadol (durchschnittliche Tagesdosis = 284 mg) nahmen die Schmerzen – gemessen mit einer numerischen 11-Punkteskala – im Verlauf der Studie von 7,0 auf 4,2 Punkte ab, mit Oxycodon (durchschnittliche Tagesdosis = 42 mg) von 7,2 auf 5,2 Punkte.(7)
Mit Tapentadol wurden auch Studien mit einer retardierten Form durchgeführt. Im Vergleich zu ebenfalls retardiertem Oxycodon (Oxycontin®) zeichnete sich dabei das gleiche Bild wie mit den nicht-retardierten Formen.(8) (In der Schweiz ist die Retardform von Tapentadol noch nicht erhältlich.)
Unerwünschte Wirkungen
Als Nebenwirkungen von Tapentadol stehen die bekannten Probleme im Vordergrund, welche Opioide kennzeichnen, das heisst Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Mundtrockenheit, Schwindel, Schläfrigkeit, Juckreiz und Kopfschmerzen; ebenso kann eine Atemdepression vorkommen. Gewisse Nebenwirkungen, zum Beispiel die gastrointestinalen, scheinen unter Tapentadol weniger häufig vorzukommen als unter der Vergleichssubstanz Oxycodon. Ausgehend von den Erfahrungen mit Tramadol ist damit zu rechnen, dass auch Tapentadol Krampfanfälle hervorrufen kann.(2) Wie andere Opioide besitzt Tapentadol ein Missbrauchspotential und kann beim Absetzen zu Entzugserscheinungen führen (Schwitzen, Zittern, Unruhegefühl, vermehrtes Gähnen, Hitze- oder Kältegefühl u.a.).(9)
Interaktionen
Die Kombination mit anderen Medikamenten, die ZNS-dämpfend wirken, kann insbesondere zu einer verstärkten Sedation führen. Wenn Tapentadol zusammen mit serotoninergen Substanzen verabreicht wird (z.B. selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern), besteht die Möglichkeit eines Serotonin-Syndroms. In Verbindung mit MAO-Hemmern können vermehrte noradrenerge Wirkungen auftreten.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Tapentadol (Palexia®) wird als Tabletten zu 50 und 75 mg angeboten; andere Verabreichungsformen – retardierte Präparate oder Injektionslösungen – sind bislang nicht erhältlich. Die Zulassung lautet auf mittelstarke bis starke Akut-Schmerzen. Die Dosierung richtet sich nach der Schmerzintensität, wobei das Mittel alle 4 bis 6 Stunden bis zu einer Maximaldosis von 600 mg/Tag verabreicht werden kann. Bei verminderter Leberfunktion ist die Dosis anzupassen, auch indem das Dosierungsintervall verlängert wird. Tapentadol sollte in der Schwangerschaft und Stillzeit sowie bei Kindern nicht angewendet werden.
Tapentadol ist kassenzulässig und als Betäubungsmittel klassifiziert. In einem Dosisbereich von 4-mal 50 mg/Tag bis 6-mal 75/Tag ergibt sich ein Tagespreis von CHF 4.70 bis 9.05. Damit kostet Tapentadol ungefähr gleich viel wie äquipotente Oxycodon-Dosen. Billiger ist jedoch Tramadol, bei dem acht 50-mg-Kapseln, die tägliche Maximaldosis, nur CHF 3.45 kosten.
Kommentar
Es wird kaum einem Zufall entsprechen, dass Tapentadol bis anhin nicht mit Tramadol verglichen worden ist. Beide Substanzen ähneln sich zu sehr, als dass relevante Unterschiede zu erwarten sind. Da Tramadol billiger und in jeglichen Darreichungsformen zur Verfügung steht, gibt es umso weniger Grund, Tapentadol zu bevorzugen. Zudem ist Tapentadol vorerst nur für akute Schmerzen zugelassen, ein Anwendungsgebiet, in dem es sicher nicht an bewährten Alternativen mangelt. Der einzige Vorteil von Tapentadol gegenüber Tramadol mag darin liegen, dass seine analgetische Wirkung nicht durch die CYP2D6-Aktivität beeinflusst wird – was man aber nicht als sehr wesentlich anzusehen braucht.
Als Maximaldosis von Tapentadol sind 600 mg pro Tag festgelegt worden, was – wenn man auch hier einen Vergleich mit Tramadol wagt – als recht hoch bezeichnet werden kann. Leider wird aus den Veröffentlichungen der klinischen Studien nicht klar, wieviele Personen effektiv mit dieser Höchstdosis behandelt worden sind. Somit raten wir zu Vorsicht, wenn dieser hohe Dosisbereich beschritten werden soll.
Literatur
- 1) Hartrick CT, Rozek RJ. CNS Drugs 2011; 25: 359-70
- 2) http://www.accessdata.fda.gov/drugsatfda_docs/nda/2008/022304s000MedR_P1.pdf
- 3) Kleinert R et al. Anesth Analg 2008; 107: 2048-55
- 4) Daniels SE et al. Curr Med Res Opin 2009; 25: 765-76
- 5) Daniels S et al. Curr Med Res Opin 2009; 25: 1551-61
- 6) Hartrick C et al. Clin Ther 2009; 31: 260-71
- 7) Hale M et al. Curr Med Res Opin 2009; 25: 1095-104
- 8) Hoy SM. Drugs 2012; 72: 375-93
- 9) Hartrick CT. Exp Opin Pharmacother 2009; 10: 2687-96
Standpunkte und Meinungen
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