Medikamente für alte Menschen
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 34
, Nummer 6, PK882
Redaktionsschluss: 8. Oktober 2012
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2012.882 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Da immer mehr Leute alt werden und alte Leute öfter Medikamente benötigen als junge, wird das Thema einer geriatrischen Pharmakotherapie immer wichtiger. Wenn man aber einmal von der Binsenwahrheit absieht, dass Krankheiten mit zunehmendem Alter durchschnittlich häufiger werden, was sind denn die Besonderheiten der Pharmakotherapie im Alter?
Nachdem ich mich in der letzten Zeit wiederholt mit dem Thema befasst habe, fühle ich mich in meiner Meinung bestärkt, dass hier recht viel geschrieben wird, das man nicht wirklich als «Evidenz-basiert» bezeichnen kann. Da es verhältnismässig wenige Studien gibt, an denen auch Leute über 75 oder 80 teilgenommen haben, besteht zur Zeit tatsächlich ein Wissensdefizit, was die Behandlung bei «chronologisch» alten Leuten anbelangt. Dabei ist es aber so, dass dem chronologischen Alter eine vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt. Neben den chronologisch Alten sind es zwei Personenkreise, die – ganz unabhängig von ihrem Alter – uns die weit schwierigeren medizinischen Probleme verursachen.
Im Hinblick auf die Medikamente steht die Problematik der multimorbiden Patientinnen und Patienten im Vordergrund. Alte (aber auch jüngere) Menschen leiden oft an mehreren Krankheiten. Im Gegensatz zu früheren Zeiten kann heute der grösste Teil dieser Krankheiten mehr oder weniger wirksam behandelt werden – in vielen Fällen mit Medikamenten. So ergibt es sich quasi automatisch, dass sich die Zahl der verschriebenen Tabletten, Kapseln, Tropfen usw. vervielfacht. Ob diese Situation nun schon vor dem AHV-Alter oder erst viele Jahre später eintritt – sie kann in jedem Fall mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden sein.
Der andere Personenkreis, der ebenfalls grossenteils, aber nicht ausschliesslich als ein Altenkollektiv bezeichnet werden kann, sind Personen mit einer chronisch-invalidisierenden Krankheit. Es genügt, wenn ein Organsystem schwer betroffen ist – diese Kranken sind nicht alle multimorbid. Hier stehen heute die dementiellen Erkrankungen im Vordergrund, bei denen die medikamentösen Optionen leider sehr beschränkt sind. Dennoch stellen sich auch bei dieser Art von Problematik immer wieder Fragen zur Pharmakotherapie.
In der Abbildung sind die drei Problemkreise und ihre Verflechtungen schematisch dargestellt. Ob die angedeuteten Dimensionen zutreffen, muss dahingestellt bleiben; je nach Ort und Zeit dürften die proportionellen Anteile anders aussehen. Es liegt mir lediglich daran zu demonstrieren, dass die Pharmakotherapie im Alter nicht überwiegend eine Sache des chronologischen Alters ist.
Gibt es Veränderungen, die obligat altersabhängig manifest werden? Selbst wenn man diese Frage bejaht, ist es wichtig, sich der beträchtlichen individuellen Variabilität bewusst zu sein. Am bekanntesten ist wohl die Tatsache, dass die glomeruläre Filtrationsrate während des Erwachsenenlebens allmählich abnimmt. Bei Gesunden wird jedoch die Nierenfunktion mittels Schätzungen der Kreatininclearance (z.B. nach der Formel von Cockcroft-Gault) offensichtlich unterschätzt.(1) Die renale Ausscheidung von Medikamenten wird daher bei gesunden Alten nicht notwendigerweise relevant beeinträchtigt.(2) (Dabei darf nicht vernachlässigt werden, dass ein beträchtlicher Teil alter Leute tatsächlich eine eingeschränkte Nierenfunktion hat.)
Besonders im Zusammenhang mit den nicht-steroidalen Entzündungshemmern wird oft erwähnt, bei älteren Leuten sei die gastro-intestinale Verträglichkeit von Medikamenten weniger gut als bei jüngeren. Zu dieser Aussage findet sich allerdings keine gute Dokumentation; möglicherweise werden bei Alten nur deshalb mehr Magen-Darm-Probleme gefunden, weil sie viel häufiger als Junge Medikamente nehmen müssen.
Sofern keine entsprechenden Krankheiten vorhanden sind, gilt jedenfalls für die pharmakologisch relevanten Organsysteme, dass ihre Funktion nicht notwendigerweise mit zunehmendem Alter defizitär werden muss. Zusammenfassend besteht bei alten Leuten ohne Multimorbidität und ohne starke Beeinträchtigung durch eine chronische Erkrankung kein Grund, weshalb die Pharmakotherapie anderen Regeln als bei Jüngeren folgen sollte.
Es sind – wie schon erwähnt – die Personen mit multiplen Krankheiten, die uns Pharmakotherapie-Sorgen bereiten. Abschreckende Beispiele von überlangen Medikamentenlisten sind heute keineswegs mehr ungewöhnlich. Weitgehend unbeholfene Bemühungen, dieser Flut Einhalt zu gebieten, gibt es schon seit Jahren. Bekannt ist zum Beispiel die sogen. Beers-Liste, die Substanzen bezeichnet, die für alte Leute ungeeignet sein sollen. Leider enthält auch die neueste Version dieser Liste viele obsolete Mittel und Substanzen, deren Problematik – nicht nur bei Alten – allzu bekannt sind. Zudem sind viele Empfehlungen nicht wirklich Evidenz-basiert, sondern beruhen lediglich auf dem Konsens von amerikanischen Autoritäten.(3) Entsprechend hilft uns die Liste so gut wie nichts: Wir wissen z.B. bereits, dass langwirkende Benzodiazepine ungünstig sind – aber dies gilt für Junge so gut wie für Alte.
Wie kommt es nur zu der Problematik, dass die Medikamentenliste nach jedem Spitalaufenthalt, nach jedem Konsilium länger wird? Neben dem unkontrollierten Drang, jedes Symptom mit mindestens einem Medikament «abzudecken», sind die offiziellen Leitlinien (Guidelines) für die langen Listen hauptverantwortlich. Leitlinien werden von (nicht selten gesponserten) Expertinnen und Experten verfasst, die sich ausschliesslich an einer Krankheit (oder gar nur an einem Symptom oder Blutwert) orientieren. Ob die entsprechenden Empfehlungen auch für multimorbide Personen Gültigkeit haben, ist in der Regel nicht bekannt. Es ist höchste Zeit, dass Leitlinien erarbeitet werden, die bei Personen mit vielen verschiedenen Krankheiten angewandt werden können. Ein Vorschlag lautet, Leitlinien computerisiert so zu verknüpfen, dass sie auf einzelne multmorbide Individuen adaptiert werden können.(4)
Menschen mit einer chronisch-invalidisierenden Krankheit (auch ohne Multimorbidität) verdienen auch dann unsere pharmakotherapeutische Aufmerksamkeit, wenn wir nicht viel anzubieten haben. Wie eine neue Studie zeigt, werden z.B. demente Kranke recht häufig inadäquat behandelt.(5) Auch bei Chronischkranken müssen sich unsere therapeutischen Bemühungen in erster Linie am Wohlbefinden und an der Verhütung von Morbidität orientieren. Um dies zu erreichen, ist eine präzise Definition der individuellen Therapieziele notwendig. Die Therapieziele können sich nach den folgenden Kriterien richten: Lebenserwartung – Ausmass der funktionellen Invalidität – Lebensqualität – Prioritäten der betroffenen Person (und weiter allenfalls auch an den Prioritäten der Angehörigen oder Pflegenden).(6)
Schematische Entscheide sind oft falsch, auch im Alter ist eine optimale Individualisierung gefragt!
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