Pseudo-Placebos
- pharma-kritik-Jahrgang 10
, Nummer 16, PK646
Redaktionsschluss: 28. August 1988 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Ein Patient, der sich seit ein paar Wochen oft müde fühlt, fragt mich, ob ich ihm nichts gegen die Müdigkeit verschreiben könnte. Da ich auf Grund meiner Untersuchung zur Überzeugung gelangt bin, der Patient sei nicht krank, müsste ich ihm eigentlich sagen: «Müde sind alle Leute gelegentlich, auch ohne Krankheit. Medikamente bringen da nicht viel, und ich möchte Ihnen lieber nichts verschreiben. In einigen Wochen geht es Ihnen auch so sicher wieder besser.» Ist dies die einzige Antwort, die sich mit meinem ärztlichen Ethos vereinbaren lässt?
Meine Antwort lautet in den meisten Fällen weit weniger kategorisch. Natürlich ist es von Bedeutung, dass der Patient alles meidet, was zur übermässigen Ermüdung beitragen würde (Schlafmangel, Missbrauch sedierender Substanzen usw.). Ist aber in dieser Hinsicht nichts zu verbessern, so bin ich auch einmal bereit, dem Patienten eines der moderneren «Roborantien» (B-OM® forte, Bio- Logos®, Dynamisan® und wie sie alle heissen) zu verschreiben. Es graut mir zwar, wenn ich an den Text im Arzneimittelkompendium denke (Zitat aus dem Abschnitt «Dynamisan®»: ... Der Lebensrhythmus in der heutigen Leistungsgesellschaft führt dazu, dass wir bereits oft nach geringfügigen körperlichen und geistigen Anstrengungen Mühe bekunden, die verschleuderten Energiereserven wieder aufzufrischen ...). Ich weiss auch, dass für kein einziges dieser Mittel ein Wirkungsnachweis im klinischpharmakologischen Sinne vorliegt. Die günstigen Wirkungen dieser Präparate, von denen mir meine Patienten berichten, gehören zu den Placebo-Wirkungen.
In der Diskussion über Placebo-Wirkungen sind meines Erachtens die folgenden zwei Punkte besonderer Beachtung wert:
Placebo-Wirkungen sind nicht auf pharmakologisch inaktive Substanzen beschränkt, sondern stellen eine normale Konsequenz therapeutischer Handlungen dar. So lässt sich nachweisen, dass Placebo-Wirkungen auch in der Behand lung ausgesprochen «somatischer» Probleme -- z.B. der Herzinsuffizienz -- auftreten. Viele Faktoren tragen dazu bei, dass Placebo-Wirkungen zustandekommen. Am wichtigsten ist vielleicht die mehr oder weniger bewusste Annahme der behandelten Person, die Therapie (eine bestimmte Tablette, eine Injektionsserie usw.) besitze die erwünschte Wirkung.
Personen, die Placebo-Wirkungen zeigen, sind normale Menschen, nicht Hypochonder oder Psychopathen. Es besteht zwar in dieser Hinsicht eine beträchtliche interindividuelle Variabilität; je nach den Umständen können wir aber alle «Placebo-Responders» sein. Eine kürzlich veröffentlichte französische Studie veranschaulicht dies sehr schön: Von 38 Patienten mit schmerzhaften Knochenmetastasen, die im Rahmen einer Doppelblindstudie pharmakologisch inaktive Injektionen erhielten, verspürte mehr als die Hälfte eine tagelang anhaltende schmerzlindernde Wirkung.(1)
Wenn also Personen, die mit aktiven Pharmaka behandelt werden, in den Genuss der «Placebo-Nebenwirkung» kommen, anderseits viele auch von inaktiven Substanzen profitieren, warum sollte ich meinem «müden» Patienten die Chance einer Wirkung vorenthalten? Er erhält also möglicherweise das gewünschte Roborans. (Vielleicht muss ich noch einmal unterstreichen, dass ich häufiger genötigt bin, einem Patienten das Weglassen von Medikamenten oder Alkohol zu raten.)
Roborantien sind unechte oder Pseudo-Placebos: sie enthalten möglicherweise aktive Substanzen, unterscheiden sich in ihrer klinischen Wirkung aber nicht eindeutig von echten Placebos. Pseudo-Placebos gibt es in grosser Zahl und in vielen Varianten. Auch heute noch können wir viele Gesundheitsprobleme nur ungenügend oder dann nicht ohne Risiken behandeln. So ziehe ich es oft vor, einer Patientin oder einem Patienten eine Rheumasalbe -- mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Pseudo-Placebo -- zu empfehlen, als sogleich ein orales Antirheumatikum zu verschreiben. Ich halte es auch nicht für völlig verwerflich, in einzelnen Fällen ein Chondroprotektivum, ein orales Venenpharmakon, ein Prostatatherapeutikum oder ein Mukolytikum zu verordnen. Pseudo-Placebos sind insbesondere dann wichtig, wenn uns die Medizin und echte Medikamente nicht weiterhelfen. Die meisten «Kräuterheilmittel » gehören zu den Pseudo-Placebos -- auch die Valverde®-Präparate der Ciba-Geigy -- und selbstverständlich die zahllosen paramedizinischen Therapeutika, deren Bedeutung im alltäglichen Leben wohl grösser ist, als wir es vermuten.
Ich glaube nicht, dass wir Pseudo-Placebos grundsätzlich von der ärztlichen Praxis fernhalten müssen. Wichtig ist aber, dass wir uns selbst und unseren Patientinnen und Patienten nichts vormachen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Person, die sich meiner ärztlichen Behandlung anvertraut, Anrecht auf eine genaue Information über die angewandte Behandlung hat. Wenn ich also ein Pseudo- Placebo verschreibe, so erläutere ich dies recht ausführlich. Mein «müder» Patient wird zu hören bekommen, dass für das verschriebene Roborans ein strenger Wirkungsnachweis fehlt und dass er möglicherweise zu den Menschen gehöre, denen das Mittel gar nichts nützt. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie sehr diese offene Art der Information geschätzt wird und wie wenig sie einen möglichen Placebo-Effekt beeinträchtigt.
Welche Anforderungen sollten wir an Pseudo-Placebos stellen? Am wichtigsten ist wohl, dass ein Pseudo-Placebo nicht mehr unerwünschte Wirkungen als ein echtes Placebo verursachen sollte. Diese Regel wird nur allzu oft missachtet. Ob strychninhaltige Tonika wirklich harmlos sind? Auch die Möglichkeit von seltenen, aber gefährlichen Allergien muss bedacht werden, besonders bei injizierten Mitteln. Je weniger eindeutig der Nutzen eines Mittels nachgewiesen ist, desto strenger sollten wir nach unerwünschten Wirkungen fahnden.
Was sollen Pseudo-Placebos kosten und wer soll sie bezahlen? Jede Antwort auf diese Frage führt zu neuen, unangenehmen Fragen. Zweifellos darf vermutet werden, dass ein billiges Mittel durchschnittlich weniger Placebo-Wirkungen auslöst als ein teures. In der Schweiz sind viele Substanzen, deren klinische Wirkung einer Placebowirkung nicht eindeutig überlegen ist, verhältnismässig teuer, aber kassenzulässig. So entsteht eine Situation, in der Hersteller und verkaufende Medizinalpersonen aus dem Placebo-Effekt einen finanziellen Profit schlagen. (Auf die nicht von Apothekern oder Ärzten verkauften Pseudo- Placebos kann ich hier nicht näher eingehen; es ist offensichtlich, dass sich viele Leute an Pseudo-Placebos bereichern.) Das Unterfangen, die Liste der kassenzulässigen Präparate («Spezialitäten-Liste») von Pseudo-Placebos zu «säubern», ist aber als hoffnungslos zu bezeichnen, da mit ganz erbittertem Widerstand der Industrie zu rechnen ist. Ich erinnere nur daran, wie lange es gebraucht hat, bis endlich Cianidanol (Catergen®) verschwunden ist. Dennoch: die heutige Sachlage ist unbefriedigend; neue, weniger auf den Profit ausgerichtete Lösungen sollten gesucht werden. Wie wäre es, wenn ein Teil der Einnahmen aus Pseudo-Placebos in einen neutral verwalteten Forschungs- Fonds fliessen müsste?
Etzel Gysling
Literatur
- 1) F. Boureau et al.: Presse Méd. 17: 1063, 1988
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