Pharmaindustrie zerstört Goodwill
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 24
, Nummer 8, PK55
Redaktionsschluss: 2. Oktober 2002
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2002.55 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Pharmaindustrie zerstört Goodwill
Man soll, sagt man, dem Huhn nichts antun, das goldene Eier legt, und meint damit die pharmazeutische Industrie. Niemand kann bestreiten, dass uns die von der Industrie finanzierte Forschung in den letzten Jahrzehnten einige neue Arzneimittel gebracht hat, die einem echten medizinischen Fortschritt entsprechen. Dies gilt mindestens für die reicheren Länder der «ersten» Welt - ärmere Länder profitieren offensichtlich viel weniger. Was aber, wenn sich das Huhn mit den goldenen Eiern selbstgefährlich verhält?
In den letzten Jahren wird nämlich immer vordergründiger, dass sich diese Industrie nicht für die Gesundheit der Menschen, sondern nur für ihren eigenen Profit einsetzt.(1) Es geht nicht darum, möglichst vielen Kranken zu helfen, angestrebt wird vielmehr, möglichst teure Produkte möglichst oft zu verkaufen, eben «Blockbusters» zu kreieren. Das war noch vor wenigen Jahrzehnten anders und der Goodwill, der der Industrie aus den Kreisen der Ärzteschaft entgegen gebracht wurde, war weitgehend gerechtfertigt. Jetzt setzt die Industrie diesen Goodwill scheinbar bedenkenlos aufs Spiel, um den Interessen der Aktionärinnen und Aktionäre zu genügen. Wie anders könnte man sonst verstehen, dass z.B. im Sommer 2001 medizinische Fachleute erst über den Untergang von Cerivastatin (Lipobay®) informiert wurden, nachdem die Finanzwelt bereits orientiert war? Man muss sich wirklich fragen, ob es unerlässlich - und langfristig haltbar - ist, dass diese Industrie finanziell in so hohem Masse ein Spielball der Börsenspekulation ist.
Wenn es darum geht, den Profit zu vermehren, scheut die Pharmaindustrie auch keineswegs vor einem Techtelmechtel mit der Tabakindustrie zurück. Dank der Tatsache, dass heute umfangreiche Dokumente der Tabakindustrie offengelegt werden mussten, kann man Einblick in solche Machenschaften gewinnen. Gemäss einer ersten Übersicht zu diesem Thema haben sich Pharmafirmen, die z.B. Nikotinersatzpräparate verkaufen, wiederholt mit den Zigarettenproduzenten arrangiert.(2) Dies beruht auf der engen Verflechtung dieser Firmen - innerhalb eines Konzerns koexistierten unter Umständen Firmen, die Nikotinersatzpräparate herstellen mit solchen, die Pflanzenschutzmittel oder Befeuchtungsmittel für Tabak verkaufen. Die Konsequenz daraus war, dass von der Industrie gesponserte Antirauch-Kampagnen eingeschränkt wurden. In anderen Fällen konnte gezeigt werden, dass derselbe Konzern finanziell an der Zigarettenproduktion und an der medikamentösen Therapie der Nikotinsucht beteiligt war.(2) Wie glaubwürdig ist nun die Ausrichtung dieser Industrie auf die Gesundheit?
Besonders beunruhigend ist jedoch, was die Industrie mit «Direct to Consumer Advertising» (DTCA) erreichen will. Von der Möglichkeit, mit Inseraten und Fernsehspots auch für rezeptpflichtige Medikamente zu werben, verspricht sich die Pharmaindustrie offenbar sehr viel. (DTCA in dieser Form ist in einigen Ländern bereits legal.) Schon heute haben wir das zweifelhafte Vergnügen, Werbung für die verschiedensten, oft recht fragwürdigen, aber rezeptfreien «Heilmittel» ansehen zu müssen. Schon heute gelingt es der Industrie auch, auf dem Umweg über Ghostwriters und freundliche Fernsehdoktoren für rezeptpflichtige Medikamente zu werben. Das Ziel von DTCA ist aber ganz klar eine vermehrte Medikalisierung von Personen, die sich bisher nicht krank gefühlt haben.
Vielleicht muss daran erinnert werden, dass gesunde Menschen sinnvollerweise nur dann Medikamente einnehmen, wenn der präventive Nutzen dieser Medikamente über jeden Zweifel erhaben ist. Hier sollte uns das Beispiel des vorzeitig beendeten Studienarms «Östrogen + Medroxyprogesteron» der Women's Health Study eine Lehre sein.(3) Da weltweit so viele gesunde Frauen - die Menopause ist keine Krankheit - mit Östrogenen und Gestagenen substituiert wurden, kamen wohl Hunderttausende zu Schaden.(1)
Schon die bisher verwendeten Werbemethoden haben den Ärztinnen und Ärzten einiges an Problemen bereitet. Wie soll es denn gelingen, die Kosten einigermassen im Ruder zu halten, wenn wir mehr und mehr mit der Forderung nach neuen, teuren (aber in der Regel keineswegs besseren) Medikamenten konfrontiert sind? Mit DTCA für rezeptpflichte Medikamente würde das alles noch schlimmer werden. Das unangenehme Gefühl, von Big Brother Pharma bevormundet zu werden, wird sich verstärken. So wird der Goodwill, über den die Industrie zur Zeit noch verfügt, vollständig erodiert. Schlimmer noch: es könnte ein Klima des Misstrauens entstehen, das sich letzten Endes für die Industrie verheerend auswirken würde. Wie schützen wir das Goldhuhn vor sich selbst?
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