Chronisches Evidenzdefizit
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 23
, Nummer 17, PK279
Redaktionsschluss: 5. April 2002
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2001.279 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Je länger ich mich damit beschäftige, überzeugenden Wirkungsnachweisen ("Evidenz") für verschiedene therapeutische Optionen nachzugehen, desto offensichtlicher wird für mich, wie gross unser Wissensdefizit in zahlreichen Bereichen der täglichen Praxis ist. Ein ganz beträchtlicher Teil unserer medizinischen Aktivität beruht auf Gewohnheiten, persönlicher Erfahrung und Wunschdenken, ohne dass entsprechende "harte Daten" vorlägen. Damit will ich keineswegs die Bedeutung der ärztlichen Erfahrung abwerten; diese ist im Gegenteil ein ganz wichtiges Element unserer Tätigkeit, sollte aber - wenn immer möglich - mit sorgfältig erarbeiteten, kritisch evaluierten Unterlagen verbunden sein.
Tatsächlich sind gute, randomisierte Studien allermeistens Arzneimittelstudien. Das erscheint in Bezug auf die Pharmakotherapie mindestens prima vista als sehr erfreulich. Geht man der Sache aber auf den Grund, so wird rasch offensichtlich, dass es dabei fast immer in höherem Masse um die finanziellen Interessen der Hersteller als um die Verbesserung des Schicksals kranker Menschen geht. Nicht-medikamentöse Aspekte und Medikamente, die sich nicht patentieren lassen, werden regelmässig vernachlässigt. Dieser Sachverhalt soll hier zunächst anhand einiger Beispiele demonstriert werden.
Die Werbung legt uns immer wieder nahe, wie wichtig eine antidepressive Pharmakotherapie sei und wie häufig depressive Patientinnen und Patienten nicht genügend behandelt würden. Antidepressiva sind jedoch ein sehr gutes Beispiel dafür, wie der Ärzteschaft immer wieder neue Generationen von Psychopharmaka beliebt gemacht werden, ohne dass sehr überzeugende Fortschritte dokumentiert sind. Die Problematik der Antidepressiva ist in einem Webdokument eindrucksvoll zusammengestellt.(1) Dort wird unter anderem gezeigt, wie die Resultate klinischer Studien geschönt werden, indem Personen gar nicht in die Studien aufgenommen werden, wenn sie auf Placebo vorteilhaft reagiert haben.
Ältere und neuere Antidepressiva unterscheiden sich kaum in ihrer Wirksamkeit. Es ist auch offensichtlich, dass jede neue Generation zunächst in ihrem Nebenwirkungspotential unterschätzt wird. Der wohl wichtigste klinische Endpunkt, die Suizidinzidenz, wird allgemein von den Antidepressiva nicht beeinflusst.(2) Anhand der Studien mit Citalopram (Seropram® u.a.) und Venlafaxin (Efexor®) konnte z.B. gezeigt werden, dass unter Placebo weder vollendete Suizide noch Suizidversuche häufiger als unter Antidepressiva sind.(3) In der gleichen Untersuchung wurde auch darauf hingewiesen, dass sich eine Besserung der depressiven Symptome mit den Antidepressiva bei 48%, mit Placebo aber immerhin bei 36% der Behandelten erreichen liess: neun Personen mussten mit einem der beiden Antidepressiva behandelt werden, damit eine Person davon profitierte. Immerhin handelt es sich um eine statistisch signifikante Wirkung - diese Evidenz ist also vorhanden.
Viel störender ist dagegen, dass Antidepressiva kaum kritisch mit nicht-medikamentösen Therapien verglichen werden. So gibt es an sich gute Anhaltspunkte, dass eine regelmässige sportliche Aktivität mit einem antidepressiven Effekt verbunden ist. Adäquate Studien fehlen jedoch; eine Metaanalyse kommt zum Schluss, die antidepressive Wirksamkeit körperlicher Aktivität sei nicht genügend nachgewiesen.(4) Der Grund für dieses Manko ist einfach einzusehen: Fachleute in Klinik und Praxis sind an einer solchen Alternative zu wenig interessiert, als dass sie den beträchtlichen Aufwand einer gut durchdachten, korrekt randomisierten Studie auf sich nehmen möchten. Dazu kommt die Problematik der Finanzierung, die im Gegensatz zu den Arzneimittelstudien nicht so leicht sicherzustellen ist.
Die Bedeutung klinisch relevanter Endpunkte von Therapiestudien lässt sich kaum überschätzen. Wenn eine Behandlung z.B. Schlaganfälle verhindert, so ist es vergleichsweise belanglos, ob diese Behandlung den Blutdruck stark oder nur wenig beeinflusst. Mit anderen Worten: Surrogatendpunkte wie Blutdruckwerte sind oft ein wenig aussagekräftiger Ersatz für klinisch wichtige, "harte" Endpunkte.
Diese Überlegung wird jedoch bei der Behandlung der Hepatitis C einmal mehr sträflich missachtet. Dabei geht es nicht um die Wirksamkeit der Interferone und Ribavirin (Rebetol®), die kombiniert etwa bei der Hälfte der Behandelten eine anhaltende Hemmung der Hepatitis-C-Virusreplikation bewirken können. Problematisch ist vielmehr, dass bisher ganz einfach nicht genügend klar ist, wie eine chronische Hepatitis C ohne Behandlung verläuft. Neben alarmierenden Daten aus Leberzentren gibt es aus den letzten Jahren mehrere Untersuchungen, die auf einen relativ gutartigen Verlauf schliessen lassen.(5,6) Dass zum Teil dennoch eine - sehr teure - Behandlung ausserhalb von Studien empfohlen wird, beruht zweifellos auf der Tatsache, dass es gelungen ist, der Ärzteschaft die Hepatitis C als behandlungsbedürftiges Problem bewusst zu machen.
Wir wissen alle, wie erfolgreich die Statine als Lipidsenker sind und dass sie zu einer relevanten Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität führen. Es gibt jedoch gute Hinweise, dass sich mit n-3-ungesättigten Fettsäuren ebenfalls kardiovaskuläre Todesfälle verhindern lassen,(7)
wenn auch die Qualität der vorhandenen Studien zu wünschen übrig lässt. Ob diese Wirkung auf einer Beeinflussung der Lipide oder auf anderen Mechanismen beruht, ist nicht geklärt. Warum wissen wir nicht mehr darüber? Einmal mehr ist festzustellen, dass umfassendere Vergleichstudien fehlen, weil die Industrie nicht interessiert ist - die n-3-Fettsäuren lassen sich nicht patentieren.
Ähnlich präsentiert sich die Situation bei der Fumarsäure. Obwohl offensichtlich nicht wenige Dermatologen und Dermatologinnen vom Nutzen dieser Substanz bei Psoriasis überzeugt sind (und sie auch verschreiben), bleibt das wissenschaftliche Interesse an der Fumarsäure sehr gering. Gewiss: man weiss von Fumarsäure-bedingten Problemen. Ob das Nebenwirkungspotential der Fumarsäure aber grösser ist als z.B. dasjenige von Methotrexat oder Ciclosporin (Sandiummun®), lässt sich bezweifeln. Der Grund für das Desinteresse der Industrie und der Fachzentren liegt auch hier darin, dass das Mittel nicht patentiert werden kann.
Ein besonders irritierender Evidenzmangel betrifft akute und chronische Lumbalgien. Obwohl es sich um ein ganz alltägliches Problem handelt, wurden viele mögliche Therapien bisher kaum kritisch geprüft. Es ist nicht erstaunlich, dass auch hier medikamentöse Therapien am besten belegt sind. Mit nicht-steroidalen Entzündungshemmern wurden zahlreiche Studien durchgeführt - dies ist ja auch notwendig, um eine entsprechende Zulassung zu erhalten! Entsprechend zuverlässig lässt sich aussagen, dass diese Arzneimittel mindestens bei akuten Lumbalgien wirksam sind, und zwar alle ungefähr im gleichen Masse.(8)
Wesentlich weniger ist für die anderen Therapieoptionen bekannt. Der Nutzen verschiedener physikalischer Therapien - wie z.B. Extension, Massage, Ultraschall - oder von lokalen Injektionen, Akupunktur usw. muss als "unbestimmt" bezeichnet werden.(9) Entweder sind gar keine Studien oder dann nur solche mit fraglicher Aussagekraft durchgeführt worden. Dies heisst natürlich keineswegs, dass diese Therapien unwirksam sind. Es bedeutet aber, dass wir nicht über genügend gute Grundlagen verfügen, wenn wir die eine oder die andere dieser Therapien verschreiben. Wäre es möglich, dieses Defizit zu beheben, könnten Lumbalgien wahrscheinlich besser und kostengünstiger behandelt werden. Auch hier stellt sich selbstverständlich die Frage nach Organisation, wissenschaftlicher Betreuung und Finanzierung der notwendigen Studien.
Weitere Beispiele liessen sich praktisch in allen Fachgebieten finden. Sinn all dieser Beispiele ist es, den eklatanten Unterschied zwischen Arzneimittel-Evidenz, die von der Industrie initiiert und finanziert wird, und anderen therapeutischen Bereichen aufzuzeigen. Es ist Zeit, der ausgesprochen profitorientierten Evidenz Daten gegenüberzustellen, die auch andere, nicht-medikamentöse Möglichkeiten berücksichtigen.
Wer kann die notwendigen Studien konzipieren und organisieren? Die Schweizer Institute für Epidemiologie und Präventivmedizin verfügen über eine Reihe brillanter Köpfe, die - in Zusammenarbeit mit den Gesellschaften für allgemeine und innere Medizin - ideal geeignet sind, unabhängige, aussagekräftige Studien in die Wege zu leiten. Ich weiss, dass dies keine leichte Aufgabe sein wird. Es würde mich aber sehr freuen, wenn es gelänge, dass sich die Schweiz in diesem Bereich vermehrt profilieren könnte.
Wer soll die Studien konkret durchführen, wer die Patienten und Patientinnen untersuchen und behandeln? Da die Studien vorwiegend Probleme der ambulanten Medizin betreffen werden, sollten sie in erster Linie von den Hausärztinnen und Hausärzten ausgeführt werden. Je nach Fragestellung dürfte dabei Unterstützung von Seiten der Spezialfächer - Rheumatologie, Psychiatrie usw. - erwünscht sein. Forschung ist nicht auf die Universitäten oder grosse Spitäler beschränkt; die Herausforderung durch Studien könnte sich durchaus vorteilhaft auf die Praxistätigkeit auswirken.
Wer soll die Studien finanzieren? Die aktive Teilnahme an Studien beansprucht Zeit und muss adäquat entschädigt werden. Wie wäre es, wenn die Krankenkassen einmal aus dem Jammertal ihrer Passivität herauskämen und statt für überflüssige Publikumswerbung ihr Geld für Studien ausgäben? Ich bin nämlich überzeugt, dass die Studienresultate zur Folge hätten, dass nicht-medikamentöse Massnahmen besser eingesetzt würden und die Kassen schliesslich geringere Kosten hätten. Eine andere Möglichkeit wäre, den Preis jeder Medikamentenpackung um einen ganz kleinen Forschungsbeitrag - vielleicht 10, vielleicht 50 Rappen - zu erhöhen und diesen Beitrag für diejenigen Studien einsetzen, die von der Industrie nicht durchgeführt werden.
Eines ist jedenfalls sicher: die Initiative für diese Art von Studien kann nicht von der Industrie erwartet werden. Es liegt nun an den ärztlichen Organisationen, Massnahmen zur Bekämpfung des chronischen Evidenzdefizits zu planen und auch durchzuführen.
Literatur
- 1) Medawar C.
- 2) Müller-Oerlinghausen B, Berghofer A. J Clin Psychiatry 1999; 60 (Suppl 2): 94-9
- 3) Khan A et al. Int J Neuropsychopharmacol 2001; 4: 113-8
- 4) Lawlor DA, Hopker SW. Br Med J 2001; 322: 763-7
- 5) Thomas DL et al. JAMA 2000; 284: 450-6
- 6) Harris HE et al. Br Med J 2002; 324: 450-3
- 7) Bucher H et al. Am J Med 2002; 112: 298-304
- 8) van Tulder MW et al. Spine 2000; 25: 2501-13
- 9) Philadelphia Panel. Phys Ther 2001; 81: 1641-74
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