Ziconotid
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 30
, Nummer 11, PK236
Redaktionsschluss: 9. Februar 2009
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2008.236 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Ziconotid (Prialt®) wird für die intrathekale Behandlung von starken chronischen Schmerzen empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Bei Ziconotid handelt es sich um das synthetische Analogon eines aus 25 Aminosäuren bestehenden Peptids, das auch als Omega-Conotoxin MVIIA bezeichnet wird und im Nervengift enthalten ist, das von der Kegelschnecken-Art Conus magus produziert wird. Diese im Meer lebenden Schnecken lähmen mit dem Gift Fische und andere Beutetiere.
Ziconotid bewirkt eine selektive und reversible Blockade von bestimmten spannungsabhängigen Kalziumkanälen («N-type voltage sensitive calcium channels»), die beim Menschen vor allem in den nozizeptiven Nervenzellen im Hinterhorn des Rückenmarks verbreitet sind. Dadurch wird die präsynaptische Freisetzung von schmerzvermittelnden Neurotransmittern (Substanz P, Glutamat u.a.) vermindert und die Schmerzübertragung im Rückenmark gehemmt. Opioid- und andere Rezeptoren werden durch Ziconotid nicht beeinflusst.
Ziconotid wird mg pro mg als 100- bis 1000-mal potenter eingestuft als Morphin. Im Gegensatz zu Opioiden entwickelt sich bei Ziconotid keine Toleranz und Abhängigkeit sowie keine wesentliche Atemdepression.(1-3)
Pharmakokinetik
Ziconotid wird intrathekal verabreicht und ist wahrscheinlich vollständig biologisch verfügbar. Die Substanz verteilt sich praktisch nur im Liquor und tritt nicht nennenswert ins Plasma über; ein Teil wird vom Rückenmark aufgenommen (was für die Wirkung verantwortlich ist). Der Abbau erfolgt über nicht genau identifizierte proteolytische Enzyme. Die Halbwertszeit im Liquor beträgt rund 4,5 Stunden.(4)
Klinische Studien
Als wichtigste klinische Studien, die mit Ziconotid durchgeführt worden sind, liegen drei placebokontrollierte Doppelblindstudien vor. Untersucht wurden Personen mit chronischen Schmerzen, die auf andere systemisch oder intrathekal verabreichte Analgetika nicht mehr ansprachen und deren Intensität auf einer von 0 bis 100 mm verlaufenden visuellen Analogskala mindestens 50 mm erreichte. Die intrathekale Medikamentengabe erfolgte mit einer Infusionspumpe über einen Katheter, der in der Regel lumbal oder tief-thorakal platziert wurde. Andere Schmerzmittel konnten, ausser auf intrathekalem Weg, zusätzlich eingesetzt werden. Als primären Endpunkt bestimmte man die durchschnittliche prozentuale Abnahme der Schmerzstärke auf der Analogskala.
255 Personen mit starken Schmerzen, die nicht durch eine maligne Erkrankung verursacht waren und mehrheitlich als neuropathisch klassifiziert wurden, erhielten entweder Ziconotid oder Placebo. Über 6 Tage fand eine Titrationsphase statt, bei der die Ziconotid-Dosis abhängig von den Schmerzen 24-stündlich erhöht werden konnte. Die Anfangsdosis betrug zunächst 0,4 µg/h, die Maximaldosis 7,0 µg/h; nachdem gut ein Fünftel des Kollektivs behandelt worden war, setzte man zur besseren Verträglichkeit die Anfangsdosis auf 0,1 µg/h und die Maximaldosis auf 2,4 µg/h herab. Bei Personen, bei denen die Schmerzintensität in diesen 6 Tagen um mindestens 30% abgenommen hatte und eine allfällige Opioid-Behandlung nicht hatte intensiviert oder umgestellt werden müssen, führte man die Therapie 5 Tage lang weiter. Bei den anderen wurde, wenn sie Ziconotid bekommen hatten, die Behandlung gestoppt, und wenn sie zur Placebo-Gruppe gehört hatten, auf Ziconotid gewechselt. Nach Ablauf der 6-tägigen Titrationsphase betrug die durchschnittliche Abnahme der Schmerzstärke in der Ziconotid- Gruppe 31%, in der Placebo-Gruppe 6%. Unter Ziconotid berichteten 44% über eine mindestens mittelgradige Schmerzlinderung, unter Placebo waren es 17%.(5)
Einem fast gleichen Protokoll folgte eine Studie mit 111 Krebs- oder HIV-Kranken, die wegen verschiedener Komplikationen (pathologische Frakturen, postherpetische Neuralgie, Neuropathie u.a.) von starken Schmerzen geplagt waren. Hier liess sich die Schmerzstärke unter Ziconotid um 51% und unter Placebo um 18% reduzieren.(6)
Die dritte Studie dauerte 3 Wochen und fand bei 220 Personen mit chronischen Schmerzen unterschiedlicher Genese statt; grösstenteils waren sie als neuropathisch beschrieben, zum Beispiel als Ausdruck einer missglückten Rückenoperation («failed back surgery»). Als Startdosis von Ziconotid wählte man 0,1 µg/h; bei Bedarf wurde sie 24-stündlich um 0,05 bis 0,1 µg/h auf maximal 0,9 µg/h erhöht; im Durchschnitt lag sie nach 3 Wochen bei knapp 0,3 µg/h. Die Schmerzstärke hatte in dieser Frist bei Ziconotid um 15% und bei Placebo um 7% abgenommen. 28% der mit Ziconotid Behandelten äusserten grosse oder gar vollständige Zufriedenheit über das Ergebnis; bei Placebo waren es 12%.(7)
Eine längerfristige Anwendung ist nur in offen geführten Untersuchungen geprüft worden. Als Beispiele seien zwei Studien 44 Für den persönlichen Gebrauch - Kopieren nicht gestattet pharma-kritik, Jahrgang 30, Nr. 11/2008 erwähnt: In der kleineren – 145 Personen umfassend, bei denen die Ziconotid-Behandlung im Anschluss an eine placebokontrollierte Phase weitergeführt wurde – dauerte die mediane Beobachtungszeit 86 Tage,(8) in der grösseren (n=644) 68 Tage.(9) Dabei zeigte sich, dass sowohl die schmerzlindernde Wirkung wie die Dosierung mehr oder weniger konstant bleiben, dass aber auch die Behandlung in einem hohen Prozentsatz wegen Nebenwirkungen abgebrochen wird, die mehrheitlich Ziconotid anzulasten sind.
Unerwünschte Wirkungen
Wie man aus den Vergleichen mit Placebo ableiten kann, lässt eine Behandlung mit Ziconotid mannigfache Nebenwirkungen erwarten. Namentlich handelt es sich um neurologische Symptome (Schwindel, Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, Nystagmus, Gangstörungen, Ataxie u.a), psychiatrische Probleme (Verwirrtheit, Gedächtnisstörungen, Halluzinationen, Angstzustände, Depressivität, Suizidgedanken u.a.), gastrointestinale Beschwerden (Übelkeit, Durchfall, Verstopfung), verschwommenes Sehen, Harnretention, orthostatische Hypotonie, periphere Ödeme und Fieber.(4) Die Gefahr von neuropsychiatrischen Nebenwirkungen wurde von der amerikanischen FDA als bedeutend genug betrachtet, um die Packungsbeilage mit einer «black box warning» zu versehen.(10)
Bei über 10% der Behandelten fand sich ein Anstieg der Kreatinkinase- Aktivität auf über das 3-fache der oberen Norm; unterschieden nach Isoformen, war der Skelettmuskeltyp (CK-MM) betroffen.(3) Bislang gibt es keine Hinweise, dass gegen Ziconotid Antikörper gebildet werden.
Interaktionen
Generell ist damit zu rechnen, dass sich Ziconotid und andere im ZNS aktiven Substanzen in ihren Nebenwirkungen gegenseitig verstärken. Beobachtet wurde zum Beispiel eine verstärkte Sedation, wenn Ziconotid mit Baclofen (Lioresal®), Clonidin (Catapresan®) oder Propofol (Disoprivan® u.a.) kombiniert wurde. Diuretika vermindern die Liquorzirkulation, was theoretisch zu erhöhten Ziconotid-Spiegeln führen kann.(4)
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Ziconotid (Prialt®) – zugelassen für die Therapie von starken chronischen Schmerzen, die auf Opioide oder andere Massnahmen ungenügend ansprechen – wird in einer Konzentration von 100 µg/ml in Stechampullen zu 1 ml oder zu 5 ml angeboten. Als anfängliche Dosis wird 0,1 µg/h empfohlen, die je nach Ansprechen auf 0,9 µg/h gesteigert werden kann. Weil rasche Dosiserhöhungen mit einem vermehrten Nebenwirkungsrisiko einhergehen, sollten sie höchstens 0,1 µg/h betragen sowie in einem Abstand von mindestens 24 Stunden und nicht häufiger als 2- bis 3-mal pro Woche stattfinden. Für die Verabreichung, mit einer programmierbaren Infusionspumpe über einen intrathekalen Katheter durchgeführt, braucht es die entsprechenden Fachkenntnisse. Um das Risiko einer Meningitis zu vermindern, sollte insbesondere bei längerfristiger Therapie ein internes bzw. geschlossenes Katheter- und Pumpsystem bevorzugt werden. Die gleichzeitige intrathekale Verabreichung von anderen Medikamenten ist nicht eingehend geprüft und gilt im Falle von Zytostatika als kontraindiziert. Personen mit einer psychotischen oder anderen schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung sollte man kein Ziconotid verschreiben.
Zur Anwendung bei schwangeren und stillenden Frauen gibt es keine Erfahrungen.
Ziconotid ist limitiert kassenzulässig und kostet monatlich 432.20 Franken pro Dosiseinheit von 0,1 µg/h.
Kommentar
Zwar mag es wünschbar sein, dass man für die intrathekale Schmerzbehandlung ein Nicht-Opioid zur Verfügung hat. Doch ist grosse Skepsis angebracht, ob sich Ziconotid – als überaus teures Medikament – dafür besonders gut eignet. Die vielfältigen und bedenklichen Nebenwirkungen lassen Ziconotid als wenig attraktiv erscheinen. Die schmale therapeutische Breite zieht es nach sich, dass eine längere Behandlung oft nicht toleriert wird. Ebenfalls ist zu bemängeln, dass die Daten aus kontrollierten Studien einen Zeitraum von nicht mehr als drei Wochen abdecken – bei einem Medikament, das notabene für die Behandlung chronischer Schmerzen vorgesehen ist.
Literatur
- 1) Wermeling DP. Pharmacotherapy 2005; 25: 1084-94
- 2) Lynch SS et al. Ann Pharmacother 2006; 40: 1293-300
- 3) http://www.pbm.va.gov/monograph/Ziconotide.pdf
- 4) http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs/EPAR/Prialt/14122704en6.pdf
- 5) Wallace MS et al. Neuromodulation 2006; 9: 75-86
- 6) Staats PS et al. JAMA 2004; 291: 63-70
- 7) Rauck RL et al. J Pain Symptom Manage 2006; 31: 393-406
- 8) Ellis DJ et al. Neuromodulation 2008; 11: 40-9
- 9) Wallace MS et al. Anesth Analg 2008; 106: 628-37
- 10) http://www.fda.gov/medwatch/SAFETY/2007/Apr_PI/Prialt_PI.pdf1
Standpunkte und Meinungen
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