Antidepressiva und Suizidalität: gibt es Unterschiede?
- k -- Rubino A, Roskell N, Tennis P et al. Risk of suicide during treatment with venlafaxine, citalopram, fluoxetine, and dothiepin: retrospective cohort study. BMJ 2007 Feb 3; 334: 242-7 [Link]
- Zusammengefasst von: Peter Ritzmann
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- infomed screen Jahrgang 11 (2007)
, Nummer 4
Datum der Ausgabe: Juli 2007
Studienziele
In Meta-Analysen von randomisierten Studien fand sich ein erhöhtes Risiko für suizidale Gedanken und selbstschädigendes Verhalten bei unter 19-Jährigen, die mit selektiven Serotonin- Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) behandelt wurden. Ob Antidepressiva überhaupt oder allenfalls einzelne Substanzen zu einer erhöhten Suizidalität führen, wird kontrovers diskutiert. In dieser retrospektiven Kohortenstudie wurde untersucht, ob die Anwendung von Venlafaxin (Efexor®), einem Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, mit einer erhöhten Suizidalität verknüpft sein könnte.
Methoden
Verwendet wurden die Daten einer britischen Sammlung elektronischer Krankengeschichten aus allgemeinmedizinischen Praxen. 219'088 Personen, die während einer 10- jährigen Beobachtungszeit erstmals eines der Antidepressiva Venlafaxin, Citalopram (Seropram® u.a.), Fluoxetin (Fluctine ® u.a.) oder das ältere Dosulepin (Protiaden®) erhalten hatten, wurden in die Studie aufgenommen. Als Studienendpunkt definiert wurde eine Selbsttötung oder ein Suizidversuch.
Ergebnisse
Ohne Korrektur mit anderen Faktoren erschien das Risiko für einen Suizid unter Venlafaxin mehr als doppelt so hoch wie unter den drei anderen Antidepressiva. Bei den mit Venlafaxin Behandelten waren aber auch häufigere und schwerere Risikofaktoren für einen Suizid wie z.B. frühere Suizidversuche anzutreffen. Wenn dies in der Auswertung mitberücksichtigt wurde, waren die Unterschiede zu den anderen drei Medikamenten nicht mehr signifikant. Analog verhielt es sich bei den Suizidversuchen.
Schlussfolgerungen
In dieser retrospektiven Beobachtungsstudie war die Behandlung mit Venlafaxin mit einem höheren Suizidrisiko assoziiert als bei zwei SSRI und einem trizyklischen Antidepressivum. Dieser Unterschied wird aber mindestens zu einem Teil durch Unterschiede bei den Behandelten selbst erklärbar und könnte nach Meinung der Studienverantwortlichen auch vollständig durch Verzerrungen in der Studie vorgetäuscht sein.
Zusammengefasst von Peter Ritzmann
Drei (rhetorische) Fragen – Die ursprüngliche, dann aber möglicherweise übergeneralisierte Frage: Erhöht Paroxetin bei Patientinnen und Patienten unter 20 Jahren effektiv die Suizidalität oder sind Antidepressiva bei dieser Altersgruppe ganz einfach zu wenig, wenn überhaupt, wirksam? Die Folgefrage der vorliegenden Studie: Erhöht Venlafaxin effektiv die Suizidalität oder ist bei den mit Venlafaxin behandelten Patientinnen und Patienten das Suizidrisiko (schon) aus anderen Gründen höher? Es bleibt dann die allgemeine Frage: Nachdem Studie für Studie beim Unterfangen scheitert, klinisch wirklich relevante Unterschiede zwischen einzelnen Antidepressiva nachzuweisen, weshalb sollte dies nun ausgerechnet bei der, zudem wohl zu komplexen, Frage der Suizidalität gelingen?
Fazit: Die Studie bietet keinen konkludenten Beitrag zur Frage, ob Antidepressiva im Allgemeinen oder im Besonderen kürzerfristig das Suizidrisiko erhöhen. Wahr bleibt wahrscheinlich jedoch weiterhin, dass Antidepressiva, neben oder mit nicht-medikamentösen Massnahmen, längerfristig das Suizidrisiko bei Personen mit affektiven Störungen senken, bei der medikamentösen Ein- oder Umstellung aber erhöhte Vorsicht geboten ist.
Peter Zingg-Müller
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