Zu viele und zu wenig Medikamente

Die Pharmaindustrie forscht und produziert für das Wohl der Menschheit. Nicht etwa für das Wohl der kranken Menschen, sondern für das Wohl der Menschen, die Aktien besitzen. Dies wird, leider, in den letzten Jahren immer offensichtlicher. Anders liesse sich nicht erklären, weshalb wir jetzt bereits sechs masslos teure Interleukin-Antagonisten (neben mindestens acht weiteren Optionen) zur systemischen Therapie einer Plaque-Psoriasis zur Auswahl haben. Selbstverständlich unterscheidet sich jeder dieser «me-too»-Interleukin-Antagonisten in seinem Wirkungsprofil ein bisschen von den anderen – offensichtlich ist es aber nicht im Interesse von Individuen mit einer «schwierigen» Psoriasis, wenn es eine Vielfalt von Substanzen gibt, die ungenügend miteinander verglichen worden sind.

Nun verhält es sich aber durchaus nicht so, dass es keine neuen Medikamente gäbe, die allenfalls therapeutische Lücken füllen könnten oder sogar echte Innovationen darstellen. Obwohl in der Schweiz sehr kostspielige, aber nur kleinen Gruppen von Kranken dienende Medikamente in grosser Zahl eingeführt werden, sind hier andere nützliche Mittel auch nach Jahren nicht offiziell verfügbar. Schon 2003 wurde orales Ivermectin (Stromectol® u.a.) in unserer Zeitschrift als eine gute Behandlungsmöglichkeit bei Scabies bezeichnet.(1) Auch 2020 ist in der Schweiz noch kein orales Ivermectin-Präparat offiziell erhältlich. Stossend ist auch die Tatsache, dass in anderen Ländern (voran in den USA) schon seit 2017 eine neue Impfung gegen Herpes zoster (Shingrix®) verordnet werden kann, die gemäss aktuellen Daten weit wirksamer ist als die schon länger erhältliche Impfung (Zostavax®). Nicht genug damit: von vielen neuen Mitteln, die in den USA auf den Markt kommen, hört man hier kaum. Ein Blick auf die Liste von neuen Substanzen, die dort in den letzten zwei, drei Jahren eingeführt worden sind, ist beeindruckend. Gewiss: es hat auch recht viele «me-too»-Präparate dabei und die Preise sind teilweise exorbitant. Neue Mittel wie das oral verabreichbare Semaglutid, wie Tafenaquin (eine wichtige neue Waffe gegen Malaria) oder wie Andexanet alfa (ein wirksamer DOAK-Antagonist, geeignet bei Blutungen infolge von Apixaban und Rivaroxaban) machen aber fast etwas neidisch. Einige neue Antibiotika und Antidepressiva, in Europa noch nicht erhältlich, sind auch nicht zu verachten.

Über die Gründe für die grossen Innovations-Unterschiede lässt sich nur spekulieren. Es ist schwer vorstellbar, dass die behördlichen Hürden in Europa so viel höher wären als in den USA. Ob die Firmen hier die Auseinandersetzungen zu den Medikamentenpreisen scheuen, weil sie im Paradies der Maxipreise ja einen grossen Markt bedienen? Oder ob es sich manchmal gar nicht lohnt, in einem kleineren Markt einzusteigen – die Schweiz eine «quantité négligeable»? Jedenfalls ist festzuhalten, dass die Zeiten, in denen der Schweizer Markt eine Pionierrolle spielte, längst vorbei sind.

Schlimmer ist allerdings das Problem, das die längst offiziell zugelassenen Medikamente betrifft: Nachdem in der Schweiz aus finanziellen Gründen die Kapazität, im eigenen Land Medikamente herzustellen, weitgehend verloren gegangen ist und wir auf die Lieferungen aus China oder Indien angewiesen sind, kommt es immer häufiger zu (teilweise langfristigen) Lieferunterbrüchen. Wie die verdienstvollerweise von Enea Martinelli, einem Spitalapotheker, zusammengestellte Liste (www.drugshortage.ch) zeigt, hat im Verlauf der letzten Jahre die Zahl der registrierten Medikamenten-Engpässe ständig zugenommen. Was nun die Konsequenzen der Produktionsausfälle wegen der aktuell grassierenden Coronavirus-Epidemie sein werden, kann noch nicht abgeschätzt werden. So oder so besteht jederzeit das Risiko, dass es aus den verschiedensten Gründen immer wieder zu Pannen kommen kann.

Es gibt daher keinen Zweifel, dass wir uns mit der Frage einer Autarkie befassen sollten. Dabei geht es nicht darum, in jedem Bereich der Pharmaproduktion eine Autarkie aufzubauen. Einige therapeutische Sparten sind jedoch von vitaler Bedeutung – Antibiotika, Antidiabetika, Kardiaka sind Beispiele. Wahrscheinlich wäre es auch sinnvoll, im eigenen Land eine Impfstoff-Produktion sicherzustellen. Verschiedene Medien haben sich bereits mit dieser Frage beschäftigt und zum Teil auch Lösungsvorschläge unterbreitet.(2) Angesichts des klar profitorientierten Verhaltens der hiesigen Pharmafirmen ist kaum damit zu rechnen, dass wir dabei von dieser Seite viel Hilfe erhalten werden. Ich bin aber überzeugt, dass es sich um ein dringliches Problem handelt, um das sich alle kümmern sollten, die sich für kranke Menschen einsetzen.

Standpunkte und Meinungen

  • Datum des Beitrags: 6. März 2020 (13:13:13)
  • Verfasst von: Dr.med. Bernhard Meier, pensionierter Betriebsarzt (pensioniert)
  • Produktion Medikamenete CH
    Ich beobachte die Verknappung von wichtigen Meikamenten und Impfstoffen seit Jahren. Ich bin ebenfalls seit Jahren der Meinung, dass die Sicherstellung der Versorgung im öffentlichen Interesse steht. Dies wird sicher auch Kosten mit sich ziehen. Ich bin 20 Jahre bei der Lonza AG Betriebsarzt tätig gewesen. Ich weiss, dass diese Firma für zahlreichen Pharmafirmen jede Form von Support/Produktion von Medikamenten/Bio-Pharmaka/Impfstoffen übernimmt. Es ist in Visp ein enormes knowhow bei konventioneller chemischer Produktion und Biotechnologievorhanden. Es würde nichts dagegen sprechen dass CH hier Projekte zur Selbstversorung in Auftrag gibt, selbstverständlich gegen entsprechende Vergütung. Für Lonza AG Visp wäre dies sicher auch Image fördernd...
Zu viele und zu wenig Medikamente (18. Februar 2020)
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pharma-kritik, 41/No. 7
PK1080
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