Zerebralparesen immer häufiger
- Kommentar: Hans-Ulrich Bucher
- infomed screen Jahrgang 4 (2000)
, Nummer 9
Publikationsdatum: 1. Oktober 2000 - PDF-Download dieses Artikels (automatisch generiert)
Studienziele
Die Zerebralparese ist die häufigste Ursache einer schweren Behinderung im Kindesalter. Kenntnisse über Erkrankungshäufigkeit und Anzahl der Fälle mit schwerer Behinderung erleichtern Planung und Aufbau therapeutischer und sozialer Infrastrukturen. Mit dieser Langzeitstudie wurden die Inzidenz und der Schweregrad von Zerebralparesen im Nordosten Englands untersucht.
Methoden
Die Studie erfasste alle Neugeborenen der Jahre 1964 bis 1993 dreier Bezirke (ca. 10‘000 Geburten pro Jahr). Jedes Kind mit Verdacht auf Zerebralparese wurde von einem spezialisierten pädiatrischen Team untersucht. Ein speziell entwickelter Fragebogen («lifestyle assessment score» [LAS]) diente zur Bestimmung des Schweregrades der Behinderung. Ein LAS-Wert unter 30% entspricht einer nur minimalen Behinderung, ein LAS-Wert von über 70% einer schweren Behinderung. Ausgeschlossen wurden Kinder mit einem postneonatalem Insult. Bei Kindern, welche vor der Beurteilung starben, stützte sich die Diagnose auf die Krankengeschichte.
Ergebnisse
Bei 584 Kindern wurde eine Zerebralparese diagnostiziert. Die Erkrankungsrate stieg von 1,68 pro 1‘000 Lebendgeburten in den ersten erfassten Jahrgängen (1964 bis 1968) auf 2,45 in den letzten erfassten Jahrgängen (1989 bis 1993). Wenn nur die besser gesicherten Fälle (LAS über 30%) berücksichtigt wurden, verdoppelte sich die Inzidenz von 0,98 auf 1,96 pro 1‘000 Lebendgeburten. Die Aufschlüsselung nach Geburtsgewicht zeigte bei Neugeborenen unter 1‘500 g eine Zunahme der Inzidenz von 29 auf 74, bei denjenigen mit 1’500 bis 2’499 g eine Zunahme von 4 auf 11 zerebral Geschädigte pro 1’000. Bei Kindern mit einem Geburtsgewicht von über 2’500 g blieb die Inzidenz unverändert. Schwere Behinderungsformen nahmen absolut ebenfalls zu, ihr Anteil sank bei Kindern mit einem Geburtsgewicht über 2‘500 g leicht ab. Kinder mit einem Geburtsgewicht von weniger als 2‘500 g trugen zu Beginn der Beobachtungszeit erst zu einem Drittel aller und nur zu einem Sechstel der schweren Erkrankungen bei. Am Ende der Beobachtungszeit war dieser Anteil auf die Hälfte aller und auf mehr als die Hälfte der schweren Erkrankungen angestiegen.
Schlussfolgerungen
Parallel zur Abnahme der peri- und neonatalen Sterblichkeit ist in den letzten Jahrzehnten die Inzidenz der Zerebralparesen angestiegen. Für diesen Anstieg ist eine starke Zunahme der Zerebralparesen bei Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 2‘500 g verantwortlich. Viele dieser Kinder, welche früher gestorben wären, überleben heute mit einer Zerebralparese, wobei in dieser Gruppe schwere Behinderungen heute häufiger sind als früher.(FM)
Ein Anstieg der Zahl von Kindern mit einer Zerebralparese als Preis für eine sinkende perinatale Mortalität: Dies bestätigen die Resultate der vorliegenden Untersuchung und dürfte für alle industrialisierten Länder zutreffen. Die methodische Stärke dieser Arbeit ist die Registrierung von Kindern mit Zerebralparese über drei Jahrzehnte in einem geographisch definierten Gebiet nach festgelegten Kriterien. Mit einem «lifestyle assessment score» wird die Auswirkung der Behinderung auf das Kind und seine Familie erfasst. Damit konnte gezeigt werden, dass vor allem die schweren Behinderungen zugenommen haben. Diese Ergebnisse sollten Anlass geben zum kritischen Überdenken des Einsatzes von Intensivmedizin bei immer unreiferen Frühgeborenen.
Hans-Ulrich Bucher
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