Suizidgefahr nach selbstverletzendem Verhalten
- k -- Cooper J, Kapur N, Webb R et al. Suicide after deliberate self-harm: a 4-year cohort study. Am J Psychiatry 2005 (Februar); 162: 297-303 [Link]
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- infomed screen Jahrgang 9 (2005)
, Nummer 5
Datum der Ausgabe: Mai 2005
Studienziele
Die drei Hauptziele dieser prospektiven Kohortenstudie waren: 1. Die Suizidhäufigkeit nach selbstverletzendem Verhalten («deliberate self-harm») zu beurteilen; 2. den Zeitpunkt des Suizids nach selbstverletzendem Verhalten herauszufinden und 3. mögliche soziodemographische und klinische Merkmale zu eruieren, die nach selbstverletzendem Verhalten einen Suizid voraussagen lassen.
Methoden
In 4 Spitälern um Manchester und Salford wurden zwischen 1997 und 2001 7’968 Personen erfasst, die wegen selbstverletzendem Verhalten auf der Notfallstation behandelt worden waren. Mit Hilfe einer nationalen Datenbank, die Selbst- und Fremdtötungen erfasst, wurde die Häufigkeit von Suiziden in der untersuchten Kohorte untersucht.
Ergebnisse
Während der 4-jährigen Beobachtungszeit wurden 60 Suizide (0,8%) registriert. Das Sterberisiko dieser Kohorte war damit 34-mal höher als das der Gesamtbevölkerung und 15- mal höher als das der Bevölkerung der Stadt Manchester. Absolut war das Suizidrisiko bei den Männern höher (1,1%) als bei den Frauen (0,5%); bei den Frauen war aber das Sterberisiko im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung stärker erhöht als bei den Männern (45-fach gegenüber 32-fach). Das Suizidrisiko war in den ersten 6 Monaten nach dem initialen Ereignis am höchsten. Bei 1’231 Personen (15%) wurde während der Beobachtungszeit erneut selbstverletzendes Verhalten registriert. Als unabhängige Risikofaktoren für einen Suizid wurden eruiert: Wohnen ohne enge Bezugspersonen, Alkoholmissbrauch, frühere psychiatrische Behandlung, körperliche Probleme sowie Schnittverletzungen oder Verhinderung der Entdeckung beim initialen Ereignis.
Schlussfolgerungen
Die Ergebnisse der Studie zeigen die Wichtigkeit von selbstverletzendem Verhalten als Risikofaktor für einen späteren Suizid.
Zusammengefasst von Felix Tapernoux
Wer sich mit der Suizidalitätsbeurteilung befasst, steht einer verwirrenden Vielzahl von Fakten und Mythen gegenüber. Der Suizid ist ein tragisches, aber seltenes Ereignis (hier um 0,8%), was aussagekräftige Untersuchungen erschwert: dies auch bezüglich wirksamer Interventionen, gegebenenfalls unter Einschluss nichtindizierter Massnahmen bei effektiv falsch-positiver Beurteilung.
Mit der sorgfältigen, extensiven Arbeit beleuchten die Studienverantwortlichen selbstverletzendes Verhalten als einen aus einer Vielzahl von Risikofaktoren. Allerdings ist selbstverletzendes Verhalten ein selbst schon mehrfach determiniertes Phänomen, was eine Differenzierung – wie hinsichtlich Diagnose, auslösender Situation oder Funktion des selbstverletzenden Verhaltens – erforderlich machen dürfte. Weiter fragt sich, welcher praktische Erkenntnisgewinn aus einer fortgesetzten statistischen Kombination und Variation von Risikofaktoren wirklich (noch) zu erreichen ist, denn: Trotz aller (belegter) Risikofaktoren und darauf bezogener Konstrukte bleibt die Suizidalitätsbeurteilung eine ebenso individuelle wie klinische Aufgabe – unter Berücksichtigung von Paul Valéry: «Le suicide, c’est l’absence des autres.»
Peter Zingg-Müller
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