Das Problem der Verfalldaten
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 37
, PK981, Online-Artikel
Redaktionsschluss: 24. März 2016
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2015.981
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Die Frage, ob ein Medikament auch nach dem aufgedruckten Verfalldatum noch verwendet werden kann, stellt sich immer wieder neu. In einem pharma-kritik-Editorial wurde schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, wie fragwürdig Verfalldaten sind (1). Nun ist im «Medical Letter on Drugs and Therapeutics» eine kleine Übersicht zu diesem Thema erschienen (2), die im Folgenden zusammengefasst und ergänzt wird.
Die Hersteller (wie auch die meisten medizinischen Fachleute) scheuen davor zurück, Empfehlungen abzugeben zur Anwendung von Medikamenten, deren Verfalldatum abgelaufen ist. Sie äussern sich dabei weder zur Verträglichkeit noch zur Wirksamkeit. Tatsächlich liegen aber aktuell keinerlei Berichte vor zu toxischen Auswirkungen von Arzneimitteln, die nach dem Verfalldatum eingenommen, injiziert oder lokal appliziert wurden. (Angeführt wird einzig das alte Beispiel eines «verdorbenen» Tetrazyklin-Präparates, das zu einer Nierenschädigung geführt hat und schon sehr oft erwähnt worden ist, heute aber nicht mehr verwendet wird. (3))
Das offizielle Verfalldatum besagt, dass ein Medikament bis zu diesem Datum stabil ist – ein Datum, das oft aus Studien mit «beschleunigten» Alterungsprozessen abgeleitet wird. Das Datum bedeutet aber nicht, dass das Medikament nicht auch länger noch voll wirksam und verträglich sein kann. Es bezieht sich auf Mittel in verschlossenen Verpackungen (d.h. praktisch auch auf intakte Blisterpackungen).
Stabilität
Das amerikanische «Shelf Life Extension Program» dokumentiert die Stabilität von Medikamenten nach dem Verfalldatum. Gemäss den Untersuchungen dieses Programms war der Zustand von rund 88% von 122 verschiedenen Arzneimitteln im Durchschnitt 66 Monate nach dem Verfalldatum noch stabil. Keines der untersuchten Präparate versagte im ersten Jahr nach dem Verfalldatum. Kaliumjodid-Tabletten («Jodtabletten»), die im Hinblick auf «Kernkraft-Störfälle» in grossen Mengen aufbewahrt werden, haben über sehr viele Jahre ihre Wirkstärke bewahrt.
Hitze, Feuchtigkeit, Langzeitbeobachtungen
Obwohl vermutet werden muss, dass hohe Hitze und Feuchtigkeit die Qualität verschiedener Medikamente beeinträchtigt, fanden sich für verschiedene feste Arzneimittelformen (z.B. Captopril-Tabletten) stabile Wirkungswerte, auch mehrere Jahre nach dem Verfalldatum. Während mehrere Wirkstoffe noch 30 bis 40 Jahre nach dem Verfalldatum über 90% ihrer Aktivität aufwiesen, ergab sich nach dieser Zeit für die Acetylsalicylsäure nur noch eine minimale Aktivität (4).
Flüssige Arzneimittelformen
Lösungen und Suspensionen sind weniger stabil als feste Arzneimittelformen, wenn in einzelnen Untersuchungen einzelne Präparate selbst nach 12 Jahren durchaus noch Aktivität aufweisen können. Medikamente, die trüb oder verfärbt aussehen oder Präzipitate aufweisen, sollten nicht verwendet werden. Suspensionen müssen vor dem Einfrieren bewahrt werden, da sie sonst verderben. Besondere Vorsicht ist auch bei Augenpräparaten angezeigt, da das Lösungsmittel verdunsten kann.
Adrenalin-Injektoren (Epipen® u.a) können nach dem Verfalldatum ihre Aktivität allmählich verlieren. Es gibt zwar auch Studien, in denen bis 3 Jahre nach dem Verfalldatum noch eine gute Adrenalin-Aktivität gefunden wurde – wahrscheinlich weil die Injektoren in geeigneter Weise aufbewahrt wurden (5). In Anbetracht der vitalen Bedeutung dieser Präparate ist in diesem Fall eine strikte Beachtung des Verfalldatums sinnvoll.
Schlussfolgerungen
Nach aktuellem Wissen ist bei Medikamenten, die adäquat aufbewahrt wurden, nach dem Verfalldatum nicht mit «Lagerungs-bedingten» Problemen zu rechnen. Dies gilt insbesondere für feste Arzneimittelformen, bei denen bis zu 5 Jahren nach dem Verfalldatum eine gute Aktivität vermutet werden darf.
Kommentar
Untersuchungen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit nach dem Verfalldatum sind nach wie vor nur sehr spärlich vorhanden. Da sich die Industrie von besseren Studien praktisch nur negative finanzielle Konsequenzen versprechen kann, dürfte von ihrer Seite kein Wunsch nach genaueren Daten vorhanden sein. Wenn man jedoch heute annimmt, feste Formen von Medikamenten könnten mindestens bis zu einem Jahr nach dem Verfalldatum bedenkenlos verwendet werden, liegt man kaum falsch. Voraussetzung ist natürlich, dass das Medikament korrekt aufbewahrt wurde. Zu beachten ist, dass angebrochene Behälter von flüssigen Formen (insbesondere von Augenpräparaten) oft schon vor dem offiziellen Verfalldatum entsorgt werden sollten.
Zusammengefasst und ergänzt von Etzel Gysling
Standpunkte und Meinungen
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