Vom Umgang mit Fehlern
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 24
, Nummer 20, PK71
Redaktionsschluss: 27. März 2003
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2002.71 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Irren ist menschlich. Es ist also nichts Besonderes dabei, dass auch Ärztinnen und Ärzte Fehler machen.
Wie sollte man aber mit medizinischen Fehlern umgehen? Mögliche Opfer von Fehlern haben zu dieser Frage offensichtlich eine ganze andere Meinung als Ärztinnen und Ärzte. Gemäss einer in Missouri (USA) durchgeführten Studie äusserten sich Personen, die an einer chronischen Krankheit leiden oder regelmässig in ärztlicher Behandlung stehen, recht eindeutig zu ihren Informationswünschen. Zwar lässt sich nicht alles, was im nordamerikanischen Kontext zu dieser Frage gesagt wird, einfach auf hiesige Verhältnisse übertragen. Die wesentlichen Punkte, die genannt wurden, gelten aber zweifellos weitgehend auch für Europa: Patientinnen und Patienten wünschen genaue Information, wenn ein Fehler passiert und möchten auch wissen, was genau und weshalb etwas schief gelaufen ist und welche Massnahmen zur Behebung negativer Konsequenzen und zur Prävention ähnlicher Fehler getroffen wurden. Ausserdem halten sie es für wichtig, dass man ihnen emotional beisteht und dass sich die Verantwortlichen für den Fehler entschuldigen. (1)
Die in der gleichen Studie untersuchte ärztliche Sicht des Umgangs mit medizinischen Fehlern bietet ein anderes Bild: Statt den Fehler in den Vordergrund zu rücken, wäre es besser, einfach mit Zurückhaltung zu informieren, dass sich aus der medizinischen Intervention eine unerwünschte Konsequenz ergeben hätte. Ärztinnen und Ärzte halten es für ungünstig, ausführlich auf das Wie und das Warum einzugehen. Sie sagen aber auch, und das ist meiner Meinung nach ebenfalls sehr wichtig, dass sie durch medizinische Fehler ganz erheblich belastet werden und ihrerseits diesbezüglich Hilfe brauchen könnten. (1)
Tatsächlich sind es ja nicht immer gravierende «Kunstfehler», sondern relativ banale Irrtümer, die jeder
und jedem von uns passieren können. Leider gefährden aber auch geringfügige Fehler die Gesundheit derjenigen, die sich auf unser Wissen und Können verlassen müssen. Darin und in der Tatsache, dass allfällige rechtliche Konsequenzen unsere berufliche Zukunft bedrohen könnten, liegen die Gründe, weshalb wir schlecht mit unseren Fehlern umgehen können. Es ist immer peinlich, wenn ein Fehler passiert und man würde natürlich lieber alles ungeschehen machen. Am besten spricht man deshalb nicht davon und versucht sich etwas zurechtzulegen, das den Fehler als belanglos oder unvermeidlich erscheinen lässt oder aus unserer Verantwortung verbannt.
Heisst das, dass wir uns einfach mit der allseits unbefriedigenden Situation abzufinden haben oder gibt es Wege, die zu besseren Lösungen führen? Ich bin der Meinung, der Ärztestand müsste sich aktiv um diese Problematik kümmern und im Interesse von Patientinnen und Patienten, aber auch im eigenen Interesse eine Verbesserung herbeiführen.
Zunächst ist von Bedeutung, sich der Dimension des Problems bewusst zu werden. Gerade im Bereich der Pharmakotherapie gehören Fehler, wie ich dies schon einmal für die Therapie im Spital beschrieben habe, (2) zum Alltag. Ich denke, dass wir alle dazu neigen, das Ausmass der Fehler zu unterschätzen. Fehler sind aber häufig, nicht selten gefährlich und in vielen Fällen vermeidbar. Dies lässt sich an zwei Arbeiten ablesen, die vor kurzem erschienen sind.
Bei einer Kohorte von rund 30'000 älteren (mindestens 65jährigen) Personen, die in einer grossen multidisziplinären Gruppenpraxis im Osten der USA eingeschrieben waren, wurden während eines Jahres (Juli 1999 bis Juni 2000) sämtliche unerwünschten Ereignisse im Zusammenhang mit der ambulanten Arzneimitteltherapie erfasst. Dabei gelangten verschiedene Methoden zum Einsatz. So wurden unter anderem Berichte von Spitalaufenthalten und Notfall- Konsultationen analysiert, Computer-generierte Signale (z.B. Diagnosen wie Elektrolytstörungen oder Exantheme) und weitere Quellen ausgewertet. Von insgesamt 1523 medikamentös induzierten Problemen waren 38% gefährlich oder lebensbedrohlich oder hatten gar zum Tode geführt. Nach der Beurteilung der Studienverantwortlichen wären davon wiederum 42% vermeidbar gewesen! Der weitaus grösste Teil vermeidbarer Ereignisse beruhte auf Fehlern beim Verschreiben oder bei der Überwachung der Therapie. Nur bei rund 20% der vermeidbaren Probleme war ein Fehlverhalten der Patientin oder des Patienten mitbeteiligt. (3)
Sehr aufschlussreich ist auch eine Fall-Kontroll-Studie, bei der untersucht wurde, wie häufig bestimmte Interaktionen für die Hospitalisation von älteren Kranken verantwortlich sind. Über die staatliche Krankenversicherung in Ontario (Kanada) werden einerseits sämtliche Medikamente, die Personen über 65 Jahren verordnet werden, anderseits auch die wichtigsten Daten zu jedem Spitalaufenthalt aufgezeichnet. In der Studie wurde nach dem Zusammenhang zwischen bestimmten Eintrittsdiagnosen (Hypoglykämie, Digitalistoxizität, Hyperkaliämie) und Arzneimittelinteraktionen gesucht. Personen, die mit einem ACE-Hemmer behandelt wurden, hatten z.B. ein um das 20fache erhöhtes Risiko, mit einer Hyperkaliämie ins Spital eingeliefert zu werden, wenn sie in der Woche vor Spitalaufnahme zusätzlich mit einem kaliumsparenden Diuretikum behandelt worden waren. Auch hier kommen die Studienautoren zum Schluss, ein grosser Teil der Interaktionen und ihrer Folgen hätte sich vermeiden lassen. (4)
Wir müssen es zur Kenntnis nehmen: Viele unerwünschte Medikamentenwirkungen wären grundsätzlich vermeidbar, sind also die Folge von Fehlern. Die wichtigste Konsequenz aus dieser Erkenntnis lautet, dass wir uns mehr mit unerwünschten Wirkungen und Interaktionen befassen müssen. Diese Problematik sollte einen prominenten Platz in Fort- und Weiterbildung einnehmen. Auch sind Hilfsmittel jeder Art – z.B. elektronische Interaktions-Module – viel konsequenter einzusetzen als dies bisher geschieht.
Ich selbst habe mir vorgenommen, häufiger als bisher die Medikamentenlisten besonders meiner älteren Patientinnen und Patienten zu überprüfen. Vielleicht wäre es noch besser, wenn mein Praxispartner dies für mich täte, sieht man doch vieles mit anderen Augen, wenn es nicht die eigenen Aufzeichnungen sind. Zwar bin ich mir bewusst, wie wenig sich die Schweizer Ärzteschaft bisher für eine «Peer Review » erwärmen konnte. Dennoch bin ich sicher, dass schon der Gedanke daran, dass meine Krankengeschichte vielleicht einmal von einem kritischen Gremium überprüft würde, mich zu grösserer Vorsicht beim Verschreiben veranlassen würde.
Nun ist es nützlich und gut, wenn ich mir meiner Fehler besser bewusst werde – und hoffentlich auch daraus lerne. Noch viel wichtiger ist es aber, dass auch andere davon profitieren können. In diesem Zusammenhang kann ich auf eine sehr erfreuliche Neuentwicklung hinweisen. Nachdem das Departement Anästhesie des Basler Universitätsspitals seit Jahren im Internet eine erfolgreiche anonyme Meldestelle für Anästhesie-Zwischenfälle («Critical Incidents Reporting System», CIRS) unterhält, gibt es jetzt neu auch ein CIRS, das der Schweizer Allgemeinmedizin dienen soll. Über die Webadresse www.cirsmedical.ch/GP/default1.asp und mit dem Passwort «SGAM» gelangt man zur Fehlermeldeseite der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM). Eine solche Meldestelle, die dank der Anonymität eine «unbelastete» Meldung von Fehlern ermöglicht, stellt einen grossen Fortschritt dar. Nicht ganz verständlich ist für mich, weshalb ausgerechnet «schwere Zwischenfälle mit bleibendem Schaden oder Tod» nicht gemeldet werden sollen. Schliesslich wären es ja gerade die gefährlichen Fehler, aus denen andere am meisten lernen könnten. (Im Anästhesie-CIRS werden regelmässig auch Zwischenfälle gemeldet, die zum Tod geführt haben.) Wenn schwere Fehler verschwiegen werden und niemand davon weiss, so kann niemand von diesen Fehlern lernen. Mit anderen Worten: unser Schweigen reduziert die Chance, dass Kolleginnen und Kollegen gerade diesen Fehler vermeiden.
Ganz allgemein wäre es vorteilhaft, wenn bei Fehlern auf das intensive Suchen von Schuldigen verzichtet werden könnte. Zwar ist es möglich, dass im Einzelfall gelegentlich wirklich eine Person identifiziert werden kann, die für einen Fehler verantwortlich ist. Besonders bei schweren Komplikationen liegt jedoch oft eine Verkettung ungünstiger Umstände vor, an denen mehrere Fachpersonen beteiligt sind. Eine schlecht leserliche Verordnung, die falsch interpretiert und entsprechend ausgeführt wird, ist dafür vielleicht das banalste Beispiel. Für die betroffenen Kranken ist es viel wichtiger, dass der Fehler rasch anerkannt wird, als dass lange nach Schuldigen gesucht wird. Um dies zu realisieren, wäre es notwendig, ein neues Haftpflicht-System zu entwickeln, in dem ein grosser Teil von medizinischen Fehlern diskussionslos als solche akzeptiert würden. Vielleicht könnte man sich dabei die Erfahrungen, die in einzelnen amerikanischen Staaten mit der «No-Fault»-Autohaftpflichtversicherung gemacht worden sind, zu Nutze machen. So könnte möglicherweise auch erreicht werden, dass die Ärzteschaft ein offeneres Verhältnis zu den leider nie völlig vermeidbaren Fehlern entwickeln könnte.
Zusammenfassend steht für mich ganz im Vordergrund, dass wir uns um eine bessere Prävention von Fehlern bemühen sollten. Dabei wird auch die jetzt aktive anonyme Meldestelle gute Dienste leisten. Daneben ist von Bedeutung, dass wir besser auf die Informationsbedürfnisse der Betroffenen eingehen, was wohl am ehesten möglich ist, wenn wir weniger von Schuld- und Haftpflichtfragen bedrängt sind.
Etzel Gysling
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