Probleme alter Menschen
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 14
, Nummer 24, PK525
Redaktionsschluss: 28. Dezember 1992 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Wir wissen es alle: Schon heute sind es vor allem alte Menschen, die ärztliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Dies gilt sowohl für die Allgemeinmedizin als auch für die meisten Spezialfächer. Nach aller Voraussicht werden in den nächsten Jahrzehnten die spezifisch geriatrischen Bedürfnisse in vielen Ländern weiter zunehmen.
Denn es besteht kein Zweifel, dass alte Leute besondere gesundheitliche Probleme haben. Ich kann dies aus eigener Erfahrung sagen, betreue ich doch in meiner Praxis neben zahlreichen Älteren auch eine Reihe von Hochbetagten -- sofern der Begriff «hochbetagt» überhaupt noch auf Leute über 80 angewandt werden darf. Ich möchte versuchen, einige der Altersprobleme etwas näher zu beleuchten und zu fragen, was die Medizin für diese Probleme heute leistet und welche Fortschritte allenfalls in Aussicht stehen.
Unter den Alterskrankheiten, die die Lebensqualität stark beeinträchtigen, stehen die neurologischen Leiden zweifellos im Vordergrund. Je älter wir werden, desto grösser ist unser Risiko, dement zu werden. Um eine Multi-Infarkt- Demenz möglichst zu vermeiden, ist es von Bedeutung, eine Hypertonie oder einen Diabetes auch im Alter nach allen Regeln der Kunst zu behandeln. Eine wichtige Erkenntnis ist sodann, dass Personen mit Vorhofflimmern in jedem Lebensalter von einer Antikoagulantienbehandlung profitieren, d.h. insbesondere weniger thromboembolische Komplikationen erleiden.(1)
Leider sind jedoch rund vier Fünftel aller Fälle von Demenz nicht vaskulär, sondern «degenerativ» bedingt. So wundert es nicht, dass heute die Alzheimer-Krankheit ein ganz wichtiges Forschungsgebiet darstellt.
Wir haben vor rund sechs Jahren über den Nutzen von Medikamenten bei dementiellen Zuständen berichtet und sind dabei zu fast völlig negativen Schlussfolgerungen gelangt.(2) In der Zwischenzeit hat sich noch nichts entscheidendes geändert: Der Nutzen von Co-Dergocrin (Hydergin ® u.a.) bleibt höchst umstritten(3) und der einmal als Wundermittel verdächtigte Cholinesterasehemmer Tacrin ist noch immer nicht über das Stadium klinischer Studien hinaus. Für die in unseren Nachbarländern äusserst beliebten Ginkgo-Extrakte kann gemäss einer Übersichtsarbeit bei leichten Störungen der Hirnfunktion eine günstige Wirkung vermutet werden, die jedoch in Fällen eigentlicher Demenz nicht genügt.(4) Ob schliesslich der Kalziumantagonist Nimodipin (Nimotop®) bei Demenz helfen könnte, ist ebenfalls noch ganz ungenügend dokumentiert. Ich wage es dennoch, optimistisch zu bleiben und die Prognose auszusprechen, dass sich innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahre echte präventive oder therapeutische Optionen für Alzheimer-Kranke eröffnen werden.
Was das Parkinson-Syndrom anbelangt, haben wir uns daran gewöhnt, dass frühe bis mittlere Stadien medikamentös recht gut beeinflusst werden können. Späte Stadien sind aber nach wie vor mit grossen Problemen für die Betroffenen und ihre Angehörigen verbunden. Der selektive MAO-Hemmer Selegilin (Jumexal®) vermag das Fortschreiten der Parkinson-Krankheit initial aufzuhalten;(5) ob jedoch dieses Medikament (oder eventuell eines der antioxidativen Vitamine) auch dazu beiträgt, die schwere Symptomatik später Stadien zu vermeiden, ist noch nicht genügend nachgewiesen.
Es gibt verschiedene andere neurologische Erkrankungen, die sich ebenfalls deletär auswirken können. Aber auch wenig «dramatische» Symptome führen manchmal zu erheblichen Alltagsproblemen. Mehrere meiner betagten Patientinnen leiden zum Beispiel an einer Unsicherheit im Gehen, die sich nicht eindeutig einer extrapyramidalen Störung oder einer Defizienz der Kreislauf- oder der Sinnesorgane zuschreiben lässt. In solchen Fällen ist es fast unmöglich, eine halbwegs überzeugende Therapie zu finden.
Die Krankheiten des Bewegungsapparates gehören auch zu den Altersleiden, die zu einer grossen Belastung im Alltag werden können. Die Osteoporose betrifft zwar nur einen Teil der alten Leute, hat aber nicht selten schwerwiegende Konsequenzen, z.B. im Zusammenhang mit Schenkelhalsfrakturen. Prävention und Therapie der Osteoporose haben meines Erachtens in den letzten Jahren keine grossen Fortschritte gemacht. Auch heute ist noch unklar, ob sich einzelne Frauen (welche?) von der Menopause bis zum Lebensende Östrogene zuführen sollten. Es gibt Hinweise auf einen Nutzen langfristiger Kalziumeinnahme (allenfalls mit Vitamin D zusammen); der knochenharte Nachweis einer präventiven Wirkung in bezug auf die Frakturhäufigkeit steht aber aus.
Für die Behandlung von Arthrosen hat die orthopädische Chirurgie heute verschiedene, in der Regel recht erfolgreiche Optionen anzubieten. Besonders im hohen Alter ergeben sich aber nicht selten Kontraindikationen für grössere chirurgische Wahleingriffe. Die nicht-steroidalen Entzündungshemmer, die dann als mögliche Alternative erscheinen, können aber ihrerseits Probleme verursachen. Diese Mittel sind eine wichtige Ursache peptischer Ulzera. Ältere Frauen scheinen besonders gefährdet zu sein; Einzelfälle, bei denen Blutungen oder Perforationen den Tod herbeiführen, kommen immer wieder vor.
Überhaupt ist daran zu denken, dass betagte Kranke weit häufiger als Jüngere unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Interaktionen ausgesetzt sind. Schuld daran ist die Tatsache, dass die im Alter sich häufenden Leiden mit immer mehr Medikamenten behandelt werden. Oft fällt es mir schwer, mich im Spannungsfeld zwischen notwendiger Zurückhaltung und therapeutischem Helferwillen richtig zu entscheiden.
Mindestens auf dem Gebiet der abnehmenden Funktionen der Sinnesorgane haben Medikamente vorläufig kaum etwas zu suchen. Ob künftig in diesem Bereich antioxidativ wirksame Mittel eine Rolle spielen werden, ist noch unsicher. Ich will aber nicht verhehlen, dass ich von den ständig verbesserten «Reparaturleistungen» der Augen- und Ohrenärzte beeindruckt bin.
Auch das grosse Sinnesorgan Haut erleidet im Alter Veränderungen, von denen einzelne nur gerade stören, andere jedoch lebensbedrohlich werden können. Kosmetisch störende Hautläsionen wie Pigmentflecken und Runzeln können mit lokal appliziertem Tretinoin (Airol® u.a.) teilweise zum Verschwinden gebracht werden.(6) Es scheint sich um eine gut verträgliche Therapie zu handeln. Möglicherweise ist das Potential der Vitamin-A-Säurederivate noch nicht ausgeschöpft.
Ursache hartnäckiger Beschwerden können auch Probleme seitens der Harnwege darstellen. Frauen sind hier weniger betroffen, obwohl eine Harninkontinenz manchmal äusserst störend sein kann. Von den Konsequenzen einer sich vergrössernden Prostata sind dagegen die meisten Männer mehr oder weniger stark beeinträchtigt. Diesen Problemkreis hat die medizinische Wissenschaft offensichtlich noch nicht im Griff. Ich weiss: in vielen Fällen bringt die transurethrale Prostataresektion eine langanhaltende Besserung der Symptome. Der Nutzen dieses Eingriffs wird aber zunehmend kontrovers beurteilt; auch ist die Operation nicht frei von unerwünschten Wirkungen. Medikamentös konnte bisher nicht viel ausgerichtet werden. Ob Finasterid (Proscar®), die neue «Prostata-Pille », wirklich einen entscheidenden Fortschritt bringt, erscheint zweifelhaft.
Natürlich habe ich in diesem kurzen Überblick vieles nur andeuten können. Dass geriatrische Fragen für pharmakritik wichtig sind, lässt sich aber an der Vorschau für 1993 erkennen. Mindestens drei der hier erwähnten Themen (nämlich: Selegilin bei Parkinsonismus; Osteoporose; Finasterid) sollen in diesem Jahr ausführlicher besprochen werden.
Etzel Gysling
Literatur
- 1) Eichhorn P. pharma-kritik 1990; 12: 33-6
- 2) Frei A. pharma-kritik 1987; 9: 9-12
- 3) Wadworth AN, Chrisp P. Drugs Aging 1992; 2: 153-73
- 4) Kleijnen J, Knipschild P. Lancet 1992; 340: 1136-9
- 5) Chrisp P et al. Drugs Aging 1991; 1: 228-48
- 6) Rafal ES et al. N Engl J Med 1992; 326: 368-74
Standpunkte und Meinungen
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