Selegilin
- Autor(en): Peter Ritzmann
- pharma-kritik-Jahrgang 15
, Nummer 11, PK520
Redaktionsschluss: 14. Juni 1993 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Selegilin (Deprenyl, Jumexal®) ist ein Hemmstoff der Typ-B-Monoaminooxidase und wird zur Behandlung der Parkinson’schen Krankheit empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Selegilin hemmt in niedrigen Dosen vor allem die Typ-BMonoaminooxidase. Es erhöht dadurch den Dopamingehalt im Striatum und in der Substantia nigra, denn der MAO-Typ-B ist hauptverantwortlich für den Abbau von Dopamin im Gehirn. Beim Dopaminabbau wird Wasserstoffperoxid (H2O2) freigesetzt. H2O2 spielt möglicherweise eine Rolle bei der Entstehung oder dem Verlauf der Parkinson’schen Krankheit. Die protektive Wirkung von Selegilin könnte also auch durch eine verminderte Bildung von H2O2 erklärt werden.
Methyl-phenyl-tetrahydropyridin (MPTP, von Opiatabhängigengelegentlich als Verunreinigung injiziert) kanneine Erkrankung verursachen, die kaum von einer Parkinson’schenKrankheit zu unterscheiden ist. Ein Metabolitvon MPTP zerstört selektiv Neuronen im Striatum und inder Substantia nigra. Im Tierversuch verhindert Selegilindie Oxidation von MPTP und damit seine toxische Wirkung.Inwieweit die protektive Wirkung von Selegelindurch den Schutz vor MPTP oder anderen exogenen Noxenzustande kommt, lässt sich heute allerdings noch nichtabschätzen.(1)
Pharmakokinetik
Die Angaben zur Pharmakokinetik von Selegilin sind lückenhaft. Dies beruht darauf, dass die verfügbaren Messmethoden zu wenig empfindlich sind, um die mit therapeutischen Dosen erreichbaren Selegilin-Konzentrationen in biologischen Medien nachzuweisen. Wahrscheinlich wird das Medikament im Magen-Darm-Trakt rasch resorbiert und unterliegt einer ausgeprägten präsystemischen Metabolisierung («first-pass»). Im Plasma sind insbesondere drei Metaboliten messbar: Demethylselegilin, L-Metamphetamin und L-Amphetamin.(1) Die Bedeutung dieser Metaboliten für die Selegilinwirkung ist nicht geklärt (die L-Formen der Amphetamine besitzen nur etwa ein Viertel der Aktivität der D-Formen). Auch im Urin wird Selegilin grösstenteils in Form dieser drei Metaboliten ausgeschieden. Die Plasmahalbwertszeit der Metaboliten beträgt 2 Stunden (Demethylselegilin) bis 20 Stunden (Amphetamine). Unter therapeutischen Selegilindosen soll es jedoch nicht zu einer bedeutsamen Kumulation der Metabolite kommen.
Klinische Studien
Monotherapie bei Morbus Parkinson
Kann der Verlauf einer Parkinson-Erkrankung mit einer früh einsetzenden Selegilin-Behandlung günstig beeinflusst werden? Diese Frage versuchten mehrere in den letzten Jahren durchgeführte Studien zu beantworten.
Eine grosse Doppelblindstudie umfasste 800 Personen mit einer vorher unbehandelten Parkinson’schen Krankheit. Die Betroffenen erhielten täglich entweder zweimal 5 mg Selegilin oder Vitamin E (Tocopherol, 2000 E/Tag), beide Medikamente oder Placebo. Es wurde insbesondere geprüft, zu welchem Zeitpunkt die Behinderung durch die Krankheit den Beginn einer Levodopa-Behandlung indiziert erscheinen liess. Eine Wirkung von Vitamin E liess sich nicht nachweisen. Dagegen erreichten nach einer Beobachtung von durchschnittlich 14 Monaten deutlich weniger der mit Selegilin Behandelten den erwähnten Endpunkt (154 gegenüber 222); die Levodopa-Behandlung musste ohne Selegilin um Monate früher begonnen werden. Dieser Unterschied wurde schon im ersten Behandlungsjahr erreicht und blieb in der Folge praktisch konstant. Zu Beginn der Behandlung verbesserte sich unter Selegilin die motorische Behinderung leicht, im Vergleich mit Placebo allerdings signifikant.(2,3)
Ob diese symptomatische Wirkung allein die beobachtete Verzögerung der Krankheitsentwicklung erklärt, oder ob tatsächlich der Krankheitsprozess verlangsamt wurde, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Für eine zusätzliche protektive Wirkung von Selegilin spricht, dass alle Untergruppen mit Selegilin (also auch diejenigen, welche sich nach Beginn der Behandlung symptomatisch verschlechtert hatten) den Endpunkt später erreichten als die Placebo- Behandelten.(2,3)
In drei kleineren placebokontrollierten Studien vermochte Selegilin ebenfalls den Beginn einer Levodopa-Behandlung zu verzögern.(1,4)
Selegilin bei Levodopa-Behandlung
Levodopa in Kombination mit einem Decarboxylasehemmer (Benserazid oder Carbidopa; Madopar®, Sinemet®) reduziert die Parkinson-Symptome bei einem grossen Teil der Betroffenen. Mit zunehmender Dauer nimmt aber bei vielen die Wirksamkeit der Behandlung ab. Zum Teil treten ausgeprägte Wechsel in der motorischen Aktivität auf, z.B. als Akinesien gegen Ende eines Dosis-Intervalls («Wearing-off»-Effekt) oder als kurze, von der Tabletteneinnahme unabhängig auftretende akinetische Phasen («On-Off»-Phänomen).(5)
In mehreren Studien wurde untersucht, ob Selegilin die Wirksamkeit von Levodopa verbessern oder die Schwankungen in seiner Wirkung ausgleichen kann. Mehrheitlich liess sich ein günstiger Effekt von Selegilin nachweisen (symptomatische Besserung oder Reduktion der Levodopa- Dosis). Die Erfolge waren jedoch in der Regel bescheiden und nur von wenigen Monaten Dauer. Personen mit «Wearing-off»-Symptomen profitierten mehr als solche mit «On-Off»-Phasen.(1)
In einer offenen Langzeitstudie wurden 941 Personen bis zu 9 Jahren (durchschnittlich etwa 4 Jahre) entweder mit Levodopa/Benserazid allein oder in Kombination mit Selegilin behandelt. Gemäss einer retrospektiven Analyse war die durchschnittliche Überlebenszeit in der Selegilin- Gruppe etwa um 15 Monate länger als in der Kontrollgruppe. (6)Zwischen den beiden Behandlungsgruppen bestanden aber einige Unterschiede (Alter, Verhältnis der Geschlechter, Erkrankungsdauer, Levodopa-Dosis), so dass das Resultat zurückhaltend interpretiert werden muss.
Unerwünschte Wirkungen
Die Angaben zu den unerwünschten Wirkungen sind in den meisten Berichten recht spärlich. Die Herstellerfirma spricht von Symptomen, die einer L-Dopa-Überdosierung gleichen. Tatsächlich gleicht das Nebenwirkungsspektrum demjenigen der Amphetamine, wenn auch die von Selegilin hervorgerufenen Symptome in der Regel nur gering ausgeprägt sind.
Selegilin kann den Blutdruck erhöhen oder senken (orthostatische Hypotonie). Die Herzfrequenz findet sich manchmal erhöht; selten kommen auch Rhythmusstörungen vor. Seitens des Zentralnervensystems werden Kopfschmerzen, Konfusion, Euphorie, Halluzinationen, Schlafstörungen, seltener eigentliche psychotische Reaktionen beobachtet. Dyskinesien sind häufig und treten besonders bei Personen auf, die gleichzeitig mit L-Dopa behandelt werden. Einzelne Behandelte klagen über vermehrtes Schwitzen. Gastrointestinale Störungen (besonders Mundtrockenheit, Brechreiz, Bauchbeschwerden) sowie erhöhte Transaminasen kommen vor. Die Libido kann erhöht oder gedämpft sein.
Interaktionen: Im Vergleich mit den früheren, nicht-selektiven MAO-Hemmern scheint Selegilin ein geringeres Interaktionspotential aufzuweisen. Mit Sympathomimetika (z.B. in Schnupfenmitteln), L-Dopa und insbesondere mit tyraminhaltigen Nahrungsmitteln zusammen besteht dennoch ein gewisses Risiko hypertoner Reaktionen. Auch vor der Interaktion mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (z.B. Fluoxetin = Fluctine®) und Pethidin (z.B. Dolantin®) muss wegen der Gefahr schwerer Allgemeinreaktionen mit Erregung und Blutdruckanstieg gewarnt werden. Mit Neuroleptika zusammen können vermehrt extrapyramidale Symptome auftreten.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Selegilin (Jumexal®) ist als Tabletten zu 5 mg erhältlich und in der Schweiz nicht kassenzulässig. Zur Behandlung der Parkinson’schen Krankheit wird die Einnahme von 1 bis 2 Tabletten täglich empfohlen. In den grösseren Studien wurden in der Regel 5 mg morgens und abends verabreicht. In den USA empfiehlt die Herstellerfirma, die beiden Dosen morgens und mittags einzunehmen, was dem zirkadianen Rhythmus der MAO gerechter werde.(7) Die höhere Dosierung verursacht monatliche Kosten von mindestens 136 Franken. Im Vergleich dazu kostet die Verschreibung von 4mal täglich 100 mg Levodopa zwischen 64 und 119 Franken.
Kommentar
Ob die Wirkung von Selegilin nicht doch auf den beiden langwirkenden Hauptmetaboliten -- zwei Amphetaminen -- beruht? Sicher wäre ein kontrollierter Vergleich zwischen Selegilin und einem Amphetamin angezeigt. Dies ändert aber nichts daran, dass Selegilin als bisher einziges Medikament nicht nur die Symptome der Parkinson’schen Krankheit zu lindern, sondern auch den Verlauf der Erkrankung günstig zu beeinflussen scheint. In mehreren neueren Übersichtsarbeiten wird empfohlen, nach der Diagnose einer Parkinson’schen Krankheit möglichst früh Selegilin zu verschreiben. (7,8) Die eindrucksvollen Studienergebnisse dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Einzelfall keine Wunder erwartet werden dürfen. Wie es scheint, bewirkt Selegilin nur einen zeitlich begrenzten Aufschub und keine dauernde Verlangsamung des Krankheitsprozesses. Auch ist noch unklar, wie lange Selegilin den Betroffenen einen Nutzen bringt, bzw. ob und wann die teure Behandlung wieder abgebrochen werden soll.
Literatur
- 1) Chrisp P et al. Drugs Aging 1991; 1: 228-48
- 2) Parkinson Study Group. N Engl J Med 1989; 321: 1364-74
- 3) Parkinson Study Group. N Engl J Med 1993; 328: 176-83
- 4) Allain H et al. Acta Neurol Scand 1991; 136: 73-8
- 5) Masche UP, Widmer B. pharma-kritik 1988; 10: 13-6
- 6) Birkmayer W et al. J Neural Transm 1985; 64: 113-27
- 7) Collier DS et al. Ann Pharmacother 1992; 26: 227-33
- 8) Clough CG. Lancet 1991; 337: 1324-7
Standpunkte und Meinungen
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