Acitretin
- pharma-kritik-Jahrgang 15
, Nummer 15, PK512
Redaktionsschluss: 14. August 1993 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Acitretin (Neotigason®) wird zur oralen Behandlung schwerer Formen von Psoriasis und von anderen Verhornungsstörungen der Haut empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Acitretin, ein Metabolit von Etretinat (Tigason®), ist ein Vitamin-A-Derivat. Seine Wirksamkeit bei Verhornungsstörungen wird seinen antiproliferativen, entzündungshemmenden und immunmodulierenden Wirkungen auf die Haut zugeschrieben.
Pharmakokinetik
Nach oraler Verabreichung werden durchschnittlich 60% von Acitretin resorbiert. Die biologische Verfügbarkeit schwankt jedoch von einer Person zur anderen sehr stark. Gleichzeitige Nahrungsaufnahme führt zu höherer Bioverfügbarkeit. Acitretin wird vollständig metabolisiert; die Metaboliten werden etwa zu gleichen Teilen über die Nieren und die Galle ausgeschieden. Die Halbwertszeit von Acitretin wird auf 60 Stunden, diejenige des aktiven Hauptmetaboliten (13-cis-Acitretin) auf 120 Stunden geschätzt. (1) In kleinen Mengen wird aber bei einzelnen Individuen auch Etretinat (mit einer Halbwertszeit von 120 Tagen!) gebildet.
Klinische Studien
Die Wirkung von Acitretin auf verschiedene Formen und Manifestationsgrade der Psoriasis wurde in mehreren kontrollierten Studien untersucht:
In einer Dosisfindungsstudie erhielten 38 Patienten zunächst doppelblind Acitretin in Tagesdosen zwischen 10 und 75 mg oder Placebo. Nach acht Wochen zeigte sich nur für Dosen von 50 und 75 mg/Tag eine dem Placebo überlegene Wirkung auf Schuppung, Erythem und Induration. Während der anschliessenden offenen Behandlungsphase erhielten alle Patienten Acitretin in individuell angepassten Dosen zwischen 10 und 75 mg/Tag; nach 24 Wochen fand sich der Anteil der betroffenen Körperstellen durchschnittlich um 66% vermindert. Nach drei Monaten Therapiepause benötigte allerdings die Mehrheit der untersuchten Personen erneut eine Behandlung.(2) Allgemein tritt der Behandlungserfolg erst nach sechs bis acht Wochen ein; langfristig ist oft auch mit niedrigeren Tagesdosen (25 bis 30 mg) ein gutes Resultat zu erreichen.
Im Vergleich mit Etretinat (durchschnittliche Tagesdosis um 50 mg) hatte Acitretin in etwas niedrigerer Dosierung (durchschnittlich 40 mg/Tag) bei verschiedenen Psoriasisformen eine ähnliche Wirkung: Nach 12 Wochen Behandlung unter Doppelblindbedingungen waren in beiden Gruppen bei etwa 80% der Patienten die Läsionen markant reduziert oder ganz verschwunden.(3)
Die Kombination von Acitretin mit Photochemotherapie (PUVA) oder UVB-Bestrahlung erlaubt, die Acitretindosis und die Zahl der Bestrahlungen einzuschränken.(4)
Wie Etretinat ist Acitretin auch bei weiteren Verhornungsstörungen der Haut wirksam. Die beiden Substanzen wurden bei 26 Personen mit Darier-Krankheit verglichen und erwiesen sich als gleichwertig.(5) In einer anderen Doppelblindstudie wurde Acitretin (50 mg/Tag) bei Kranken mit kutanem Lupus erythematodes gegen Hydroxychloroquin (Plaquenil®, 400 mg/Tag) getestet; auch hier ergaben sich vergleichbare Resultate.(6)
Unerwünschte Wirkungen
Am Anfang der Behandlung können sich die Symptome der Hautkrankheit scheinbar verstärken. Die unerwünschten Wirkungen von Acitretin entsprechen im übrigen weitgehend denjenigen einer Vitamin-A-Überdosierung. Sie sind dosisabhängig und nach Abbruch der Behandlung reversibel. In wirksamen Dosen führt Acitretin fast bei allen Behandelten zu Trockenheit und Entzündungen der Lippen. Sehr häufig sind auch trockene Augen- und Nasenschleimhäute und trockene Haut mit Schuppung der Handflächen und der Fusssohlen sowie Haarausfall (bis zur Alopezie).
Auch Nagelveränderungem, Juckreiz, Kopfschmerzen, Gelenk- oder Muskelschmerzen sowie gastrointestinale Beschwerden kommen vor.
Bei einigen Patienten steigen die Triglyzeridspiegel an, gelegentlich auch Cholesterin und Transaminasen. Hepatitis ist selten. Besonders nach längerer Behandlung kann es zu Skelettveränderungen (Hyperostose) kommen. Im Vergleich mit Etretinat verursacht Acitretin eher mehr unerwünschte Wirkungen.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Acitretin (Neotigason®) ist als Kapseln zu 10 und 25 mg erhältlich. Es ist kassenzulässig. Es wird empfohlen, die Behandlung mit 25 bis 30 mg/Tag zu beginnen. Die Kapseln werden einmal täglich mit einer Mahlzeit oder mit Milch eingenommen. Nach etwa vier Wochen wird die Dosis aufgrund der Wirksamkeit und Verträglichkeit individuell angepasst. Bei Psoriasis soll eine Tagesdosis von 75 mg nicht überschritten werden und die Behandlung abgebrochen werden, sobald sich die Läsionen deutlich zurückgebildet haben. Bei anderen Verhornungsstörungen ist häufig eine längere Behandlung notwendig, wobei die Dosis möglichst niedrig gehalten werden soll (10 bis 50 mg/Tag). Während der Behandlung mit Acitretin ist Sonnenexposition zu vermeiden.
Acitretin ist teratogen. Da auch bei Personen, die mit Acitretin behandelt wurden, Etretinat nachgewiesen wurde, ist eine zuverlässige Kontrazeption nicht nur vier Wochen vor und während der Behandlung, sondern noch zwei Jahre danach unerlässlich. Acitretin gelangt in die Muttermilch und darf deshalb von stillenden Frauen nicht eingenommen werden. Acitretin ist ungefähr gleich teuer wie früher Etretinat: 30 Tabletten zu 25 mg kosten Fr. 141.20.
Kommentar
Acitretin (Neotigason®) erschien wegen seiner viel kürzeren Halbwertszeit als geeigneter Ersatz für Etretinat (Tigason®). Leider kann auch unter Acitretin Etretinat im Plasma gefunden werden. Dies hat allen, die auf ein «harmloseres» Präparat hofften, vorläufig einen Strich durch die Rechnung gemacht: gebärfähige Frauen müssen die gleichen Vorsichtsmassnahmen wie unter Etretinat beachten. Das neue Präparat hat im übrigen keine anderen, speziellen Vorteile gegenüber Etretinat. Die Behandlung von schweren Psoriasisformen oder anderen Verhornungsstörungen bleibt -- unabhängig von der Therapiewahl -- mit erheblichen Hypotheken belastet.
Literatur
- 1) Pilkington T, Brogden RN. Drugs 1992; 43: 597-627
- 2) Goldfarb MT et al. J Am Acad Dermatol 1988; 18: 655-62
- 3) Kragballe K et al. Acta Derm Venereol 1989; 69: 35-40
- 4) Saurat JH et al. Dermatologica 1988; 177: 218-24
- 5) Christophersen J et al. Acta Derm Venereol 1992; 72: 150-2
- 6) Ruzicka T et al. Br J Dermatol 1992; 127: 513-8
Standpunkte und Meinungen
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