Dexfenfluramin
- Autor(en): Ralf Keller
- pharma-kritik-Jahrgang 15
, Nummer 03, PK498
Redaktionsschluss: 14. Februar 1993 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Dexfenfluramin (Isomeride®) ist ein serotoninerger Appetitzügler.
Chemie/Pharmakologie
Dexfenfluramin ist die rechtsdrehende Form des Fenfluramin- Racemats (Ponflural®) und zählt zu den Amphetaminderivaten. Es wirkt hauptsächlich an serotoninergen Synapsen, wo es eine vermehrte Ausschüttung und eine verminderte Wiederaufnahme von Serotonin bewirkt. Die erhöhte Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt steigert die Aktivität der postsynaptischen Neuronen, was unter anderem ein Sättigungsgefühl auslöst.
Pharmakokinetik
Nach oraler Gabe wird Dexfenfluramin praktisch vollständig aus dem Darm resorbiert. 20 bis 25% einer Dosis unterliegen in der Leber einer präsystemischen Metabolisierung («first-pass»). Maximale Plasmaspiegel sind nach etwa 4 Stunden erreicht. Die Eliminations-Halbwertszeit liegt bei 18 Stunden.
Das Medikament wird zu 80 bis 90% in der Leber metabolisiert. 5 bis 10% werden zum aktiven Metaboliten Dexnorfenfluramin umgebaut. Dieser ist nur etwa halb so wirksam wie Dexfenfluramin, hat aber mit 32 Stunden beinahe die doppelte Halbwertszeit. Die restlichen Metaboliten sind inaktiv. Dexfenfluramin und seine Metaboliten werden im Urin ausgeschieden.(2)
Klinische Studien
Die Mehrzahl der klinischen Studien untersuchte die Wirksamkeit von Dexfenfluramin bei Personen mit ausgeprägter Adipositas ohne Begleitstörungen.
Die Kurzzeitstudien (Dauer: 3 Monate) umfassten jeweils nur kleine Personenzahlen. In der Regel wurde eine Tagesdosis von 2mal 15 mg Dexfenfluramin verabreicht und die appetithemmende Wirkung mit Placebo verglichen. Eine Reduktionsdiät gehörte zum Konzept praktisch aller Studien.
Dexfenfluramin führte bei adipösen Personen zu einer kontinuierlichen Gewichtsabnahme von 3 bis 10 kg innerhalb von 3 Monaten. Einer Behandlung mit Placebo war Dexfenfluramin im allgemeinen signifikant überlegen. In einer Studie konnte jedoch auch mit Placebo eine signifikante Gewichtsabnahme erzielt werden. Der Grund dafür war wahrscheinlich die rigorose Diät.(2)
Nach dem Absetzen der Medikation kam es jedoch oft zu einer stetigen Gewichtszunahme, bis nach wenigen Monaten das Ausgangsgewicht wieder erreicht war.(2)
Von besonderem Interesse ist eine grosse Langzeitstudie. Sie umfasste 822 adipöse Personen (über 120% des idealen Körpergewichtes) und dauerte ein Jahr. Etwa die Hälfte erhielt 2mal 15 mg Dexfenfluramin pro Tag, die Kontrollgruppe Placebo. Alle erhielten Diätinstruktionen. Nur 483 Personen beendeten die Studie, 256 aus der Dexfenfluramingruppe und 227 aus der Placebogruppe. Die übrigen hatten die Studie aus sozialen oder medizinischen Gründen oder wegen Misserfolgs abgebrochen. Das Ausgangsgewicht betrug bei beiden Gruppen im Mittel 97 kg. Nach 12 Monaten hatten die Probanden der Dexfenfluramingruppe durchschnittlich 9,8 kg abgenommen, die Probanden der Placebogruppe 7,2 kg. Die Gewichtsreduktion erfolgte bei beiden Gruppen in den ersten 6 Monaten der Behandlung. In der Dexfenfluramingruppe blieb das Gewicht danach weitgehend konstant, während sich bei der Placebogruppe eine Tendenz zum Gewichtsanstieg abzeichnete.(3) Andere Langzeitstudien zeigen einen ähnlichen Verlauf.(4)
Verschiedene kleine Einzelstudien beschäftigten sich mit speziellen Indikationen. So wurde die Wirkung von Dexfenfluramin beim prämenstruellen Syndrom, bei saisonaler Depression und nach einer Raucherentwöhnung untersucht. Erniedrigte Serotoninspiegel sollen dabei für das gestörte Essverhalten und die Entwicklung der Adipositas eine Rolle spielen.(2) Auch wurde der Frage nachgegangen, ob Dexfenfluramin auf die Adipositas bei Diabetes mellitus, auf die Neuroleptika-bedingte Fettsucht(2,3) sowie auf das sehr starke Verlangen gewisser adipöser Personen nach Kohlehydraten («carbohydrate craving»)(6) einen Einfluss habe. Eindeutige Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen kleinen Studien jedoch nicht ableiten.
Vergleichsstudien von Dexfenfluramin mit Fenfluramin- Racemat oder anderen Appetitzüglern finden sich keine in der Literatur. Damit bleibt insbesondere offen, ob zwischen dem neueren Dexfenfluramin und dem schon länger verwendeten Fenfluramin-Racemat klinisch relevante Unterschiede bestehen.
Unerwünschte Wirkungen
Häufig auftretende unerwünschte Wirkungen sind Übelkeit,Durchfall, Verstopfung und Mundtrockenheit. Seltenerwerden Schläfrigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen,Stimmungsschwankungen, Depressivität, Schlaflosigkeitund Pollakisurie beschrieben.(1,2)Der australischen Nebenwirkungszentralewurden bis Dezember 1991 67 Fälle mitinsgesamt 154 unerwünschten Wirkungen unter Dexfenfluramingemeldet. 30% davon waren neurologischer Natur,20% entsprachen psychiatrischen Problemen und15% betrafen gastrointestinale Beschwerden.(7) 1992 hatpharma-kritik dazu ausführlicher berichtet.(8)
Die schwerwiegendste Nebenwirkung ist die Entwicklungeiner pulmonalen Hypertonie. Dieses Problem trat bereitsbei den Amphetaminen auf. Bisher sind im Zusammenhangmit Dexfenfluramin mindestens sechs Fälle beschriebenworden. Der Fall einer 30jährigen Schweizerin, die anden Folgen der pulmonalen Hypertonie verstarb, dokumentiertdie Tragweite dieser Nebenwirkung. In der 34.Schwangerschaftswoche wurde diese Frau schwerdyspnoisch ins Universitätsspital Zürich eingewiesen. ImEKG fand man Hinweise auf eine fortgeschrittene rechtsventrikuläreDilatation; das Ventilations-Perfusionsszintigrammzeigte keine Lungenembolien. Der anschliessenddurchgeführte Kaiserschnitt wurde von der Patientin hämodynamischgut toleriert. Postoperativ verschlechtertesich jedoch die pulmonale Hypertonie. Die intensivmedizinischeBehandlung blieb ohne Erfolg. Am dritten Hospitalisationstagerlitt die Patientin einen Herzstillstand;tags darauf verstarb sie an einem akuten Rechtsherzversagen.Anamnestisch hatte die Patientin vor der Schwangerschaftwährend sechs Monaten Dexfenfluramin eingenommen.(9)
Wie das erwähnte Beispiel zeigt, ist die Entwicklung einerpulmonalen Hypertonie nicht nur während, sondern bismehrere Monate nach dem Absetzen von Dexfenfluraminmöglich. Alle Behandelten müssen deshalb dringend daraufhingewiesen werden, sich bei Atembeschwerden,Brustschmerzen oder Synkopen unverzüglich beim Arztzu melden.
Interaktionen: Dexfenfluramin soll als Serotonin-Wiederaufnahmehemmernicht zusammen mit MAO-Hemmerneingenommen werden. Die Kombination dieser beidenStoffgruppen hatte im Zusammenhang mit anderen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern zu schweren Allgemeinreaktionengeführt. Zwischen dem Absetzen des einenMedikamentes und der Einnahme des andern muss eineZeitspanne von mindestens zwei Wochen eingehaltenwerden.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Dexfenfluramin (Isomeride®) ist als Kapseln zu 15 mg erhältlich. Es ist nicht kassenzulässig. Empfohlen wird eine Dosis von je einer Kapsel morgens und abends zu den Mahlzeiten. Die Verabreichung soll auf 12 Wochen begrenzt werden. Kontraindiziert ist Dexfenfluramin bei Personen mit einer Psychose in der Anamnese oder mit einer Depression (Ausnahme: saisonale Depression), bei Patienten mit einem Glaukom oder mit bekanntem Medikamentenabusus sowie bei Leber- und Niereninsuffizienz, in der Schwangerschaft (Kategorie C) und bei Kindern und Jugendlichen im Wachstum.
Die Behandlung während eines Monats kostet Fr. 64.30. Eine Behandlung mit Fenfluramin-Racemat (Ponflural®) ist mit rund Fr. 45.- pro Monat doch deutlich billiger.
Kommentar
Dexfenfluramin ist ein wirksamer Appetitzügler und relativ gut verträglich. Ob es wirksamer als Fenfluramin-Racemat ist, kann mangels Vergleichsstudien nicht beurteilt werden. Sowohl Dexfenfluramin als auch Fenfluramin-Racemat kommen als Ursache einer pulmonalen Hypertonie in Betracht. Von einer Anwendung, die länger als drei Monate dauert, ist deshalb abzuraten. Andererseits ergeben Kurzzeittherapien keinen dauerhaften Effekt. Zu denken gibt auch die Tatsache, dass sich in der beschriebenen Langzeitstudie rund drei Viertel des Appetitzügler-Effektes mit einem Placebo erreichen liessen. Eine einfache Lösung, die überflüssigen Kilos längerfristig loszuwerden, existiert auch mit Dexfenfluramin nach wie vor nicht.
Literatur
- 1) Turner P. Drugs 1990; 39 (Suppl. 3): 53-62
- 2) McTavish D, Heel RC. Drugs 1992; 43: 713-33
- 3) Guy-Grand B et al. Rev Med Int 1989; 10(3): 271-7
- 4) Mathus-Vliegen EMH et al. J Int Med 1992; 232: 119-27
- 5) Silverstone T. Drugs 1992; 43: 820-36
- 6) Andersson B et al. Eur J Clin Pharmacol 1991; 40: 249-54
- 7) Austr Adv Drug Reactions Bull 1992; 11(No 1): 3
- 8) pharma-kritik 1992; 14-5
- 9) Atanassoff PG et al. Lancet 1992; 339: 436
Standpunkte und Meinungen
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