Man lernt nie aus
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 15
, Nummer 24, PK493
Redaktionsschluss: 28. Dezember 1993 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Wir sagen so leichthin «man lernt nie aus» und sind uns vielleicht zu wenig bewusst, wie sehr diese Aussage auch für Alltägliches gilt. Ich jedenfalls habe dies bei den Vorbereitungen für das Buch «Hundert wichtige Medikamente » erfahren. Man sollte doch glauben, dass die hauptsächlichen Eigenschaften der wichtigsten Arzneimittel gut bekannt wären und international ein Minimum an Konsens über ihre Qualitäten bestünde. Dies ist aber für einige der alltäglich in der Schweiz vielhundertfach verschriebenen Medikamente nicht der Fall. Der Stand unseres Unwissens lässt sich anhand von ein paar Beispielen gut illustrieren.
Hustenmittel, Halluzinogen oder Neuroprotektivum ?
Das Hustenmittel Dextromethorphan (z.B. Bexin®) hat in den letzten Jahren in der Schweiz eine Art Renaissance erlebt. Als rezeptfreie Alternative zu Codein wird es heute als Monosubstanz oder in Kombinationen recht oft verwendet. Die Substanz wurde ursprünglich 1954 eingeführt und war lange als Roche-Präparat unter dem Namen Romilar® erhältlich. Das Medikament verschwand dann vorübergehend in der Versenkung, ist aber heute auch wieder in Roche-Präparaten zu finden (z.B. Pretuval®).
Über Dextromethorphan weiss man Erstaunliches: Sein Metabolismus ist wie zum Beispiel derjenige von Codein genetisch polymorph bestimmt. Da die Metaboliten im Urin nachweisbar sind, eignet es sich als Testsubstanz zur Bestimmung des entsprechenden Phänotyps (langsamer bzw. rascher «Debrisoquin-Metabolismus»). Publikationen aus den letzten Jahren berichten aber nicht in erster Linie über pharmakogenetische Untersuchungen, sondern über Tierexperimente, in denen antiepileptiche, neuroprotektive und Anti-Parkinson-Eigenschaften von Dextromethorphan gefunden wurden. Ob diese Qualitäten je für den Menschen wichtig werden, ist noch unbekannt; das Potential ist jedenfalls vorhanden.
Dextromethorphan hat auch Schattenseiten: So ist seine Kinetik bisher nicht völlig geklärt. Wohl wegen der genetisch determinierten Unterschiede des «First-Pass»-Metabolismus wird das Medikament im systemischen Kreislauf individuell sehr unterschiedlich verfügbar. Es scheint aber, dass seine Wirkungen gänzlich oder überwiegend auf einem Metaboliten (Dextrorphan) beruhen. Dextrorphan erreicht nach 1 bis 2 Stunden maximale Plasmaspiegel - nach verschiedenen Untersuchungen sind maximale Wirkungen aber erst nach 5 bis 6 Stunden zu erwarten. Während die Muttersubstanz hepatisch eliminiert wird, ist für Dextrorphan die Niere das wichtigste Ausscheidungsorgan. Untersuchungen bei Personen mit eingeschränkter Nierenfunktion fehlen jedoch. Informationen zur Anwendung in Schwangerschaft und Stillzeit, die bei einem rezeptfrei erhältlichen Medikament als vital bezeichnet werden müssen, fehlen ebenfalls.
Sorgen bereitet auch die Tatsache, dass das Opioid Dextromethorphan zwar keine Abhängigkeit vom Opiattyp hervorruft, aber doch süchtig machen kann. In Kanada wurde z.B. über einen Süchtigen berichtet, der zunächst regelmassig in zahlreichen Apotheken Dextromethorphan-haltige Hustenmittel einkaufte und schliesslich begann, die entsprechenden Mittel zu stehlen. Dextromethorphan kann zu Symptomen wie Euphorie, Halluzinationen oder «schizophrenen» Reaktionen fuhren, die an die Wirkungen des Halluzinogens Phencyclidin erinnern. Wie nützlich, wie gefährlich ist Dextromethorphan wohl wirklich?
Entzündungshemmer ohne Grenzen?
Kommt es darauf an, welchen nicht-steroidalen Entzündungshemmer man verschreibt? Haben nicht alle diese Substanzen ungefähr die gleichen (erwünschten und unerwünschten) Wirkungen? Neuere Studien weisen recht deutlich darauf hin, dass es tatsächlich praktisch relevante Unterschiede gibt. So scheint Ibuprofen (Brufen® u.a.) ein günstigeres Nutzen/Risiko-Verhältnis als praktisch alle anderen Entzündungshemmer zu besitzen. Wahrscheinlich sind dagegen einzelne Substanzen - besonders die langwirkenden - mit einem höheren Risiko als der Durchschnitt behaftet.
Für die Auswahl der «100 wichtigen Medikamente» habe ich nicht nur die Qualitäten der Entzündungshemmer, sondern auch die Verkaufszahlen (soweit zugänglich) berücksichtigt. Dabei ergab sich, dass Entzündungshemmer in verschiedenen Ländern eine höchst unterschiedliche Verschreibungsfrequenz aufweisen. Weltweit fuhrt nicht etwa Ibuprofen, sondern Diclofenac (Voltaren® u.a.). In Deutschland wird Indometacin (Indocid” u.a.) viel häufiger verschrieben als in der Schweiz. Dagegen ist dort die Mefenaminsäure (Ponstan®), die sich in der Schweiz einer erstaunlichen Beliebtheit erfreut, von sehr geringer Bedeutung. Schlussfolgerung: Wir lassen uns in unseren Verschreibungen sehr stark von Gewohnheiten und «guter» Werbung leiten!
Gefahr für Kinder
Die Beschäftigung mit den «hundert Medikamenten» hat mir auch einmal mehr zum Bewusstsein gebracht, wie wichtig es ist, Arzneimittel jeder Art von Kindern fernzuhalten. Kleine Kinder sind manchmal von Tabletten (oder auch anderen Arzneimittelformen) fasziniert und müssen auch versuchen, was ihre Eltern oder Grosseltern einnehmen. Dabei begeben sie sich nicht so selten in Lebensgefahr.
Zu den Medikamenten, von denen schon einige genügen, um im Kindesalter eine schwere Vergiftung auszulösen, gehören zum Beispiel Chloroquin (Resochin® u.a.), Glibenclamid (Daonil® u.a.), Imipramin (Tofranil®), Paracetamol (Panadol® u.a.) und natürlich die oralen Antikoagulantien. Auch die Einnahme von 1 bis 2 g Eisen (d.h. 10 bis 20 Tabletten der üblichen Dosis von 100 mg) kann ein Kind in akute Lebensgefahr bringen. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Fachleute, auf solche Gefahren aufmerksam zu machen.
Diuretika: Lebensretter par excellence
Dass es sich lohnt, eine arterielle Hypertonie zu behandeln, wissen wir nun schon seit langem. In der letzten Zeit könnte man glauben, dazu wären die ACE-Hemmer besser geeignet als alle anderen blutdrucksenkenden Medikamente. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass dies zutrifft. Zurzeit gilt es aber zu sehen, dass der langfristige Nutzen der ACE-Hemmer als Antihypertensiva noch nicht genügend dokumentiert ist. Diese Tatsache steht im Gegensatz zu unserem Wissen über die Diuretika: ältere und neuere Studien haben gezeigt, dass die verhältnismassig preisgünstigen, oft kritisierten Diuretika Morbidität und Mortalität ganz substantiell senken.
Sensationelle Resultate bleiben weitgehend im Dunkeln, weil niemand mehr so recht an den Diuretika interessiert ist. Dabei haben zwei grosse, anfangs der 90er Jahre publizierte Studien den Nutzen von Diuretika erneut bestätigt. Die Hypertonie kann ja besonders bei älteren Leuten deletäre Komplikationen hervorrufen. Auch wenn nur der systolische Blutdruck erhöht ist, senkt Chlortalidon (Hygroton®) bei solchen Leuten die Inzidenz von Schlaganfällen und von Herzinfarkten. Auch niedrige Dosen der Kombination von Hydrochlorothiazid und Amilorid (Moduretic® u.a.) führen im Alter zu einer hochsignifikanten Abnahme der Hirnschläge und der Herzinfarkte. An solchen Fakten haben sich in der Zukunft ACE-Hemmer, Kalziumantagonisten und andere neue Antihypertensiva zu messen.
Das Wissen über «Alltagsmedikamente» wandelt sich ständig - wir sind aufgerufen, dieses Wissen zu unserem Wissen zu machen.
Etzel Gysling
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