Johanniskraut-Extrakt

Synopsis

Jarsin® 300 ist ein neu auf dem Schweizer Markt eingeführter Johanniskraut-Extrakt (LI 160), der zur Behandlung von leichten bis mittelschweren Depressionen empfohlen wird.

Chemie/Pharmakologie

Johanniskraut (Hypericum perforatum L.) ist eine weitverbreitet vorkommende, krautige Pflanze, die bis zu 60 cm hoch wird und an trockenen, sonnigen Standorten wie Wegrändern oder Bahndämmen wächst. Die Blüten des Johanniskrauts sind gelb, die Blätter enthalten kugelige Sekretbehälter, die bei durchscheinendem Licht das Bild der «durchlöcherten» Blätter ergeben, worauf der botanische Name «perforatum» zurückzuführen ist.
Johanniskraut wurde bereits in der Antike und im Mittelalter verwendet. Früher wurden vor allem Blüten und Blätter von wildwachsenden Pflanzen verwendet, heute werden auch Pflanzenteile aus kontrolliertem Anbau gewonnen. Wenn man Blüten oder Knospen des Johanniskrauts verreibt, tritt eine violette Verfärbung auf, die durch die Inhaltsstoffe der Pflanze verursacht werden. Es handelt sich dabei um verschiedene Hypericine (Hypericin, Pseudohypericin, Protopseudohypericin, Cyclopseudohypericin) und weitere Stoffe aus der Gruppe der Naphthodianthrone. Daneben sind im Johanniskraut Flavonoide, Xanthonderivate, ätherische Öle, Tannin und andere Substanzen enthalten.
In der Kräuterheilkunde wurde das Johanniskraut unter anderem aufgrund des adstringierenden Effekts des Tannins benutzt, um die Wundheilung zu fördern und um Entzündungen der Mundhöhle (Stomatitis, Gingivitis) zu behandeln. In neuerer Zeit wurden Extrakte zur Behandlung von Depressionen und anderen Erkrankungen untersucht. In einzelnen Studien in vitro wurde einer antiviralen bzw. im speziellen einer antiretroviralen Aktivität von Hypericin und Pseudohypericin nachgegangen.(1)
Man nimmt an, dass die Hypericine die wesentlichen Stoffe sind, auf denen eine antidepressive Wirkung des Johanniskrauts beruhen könnte. Versuche mit Zellen von Rattenhirnen ergaben eine Hemmung der Serotonin-Aufnahme in neuronale Synaptosomen, wenn ein Johanniskraut-Extrakt beigegeben wurde.(2) Eine früher postulierte Beeinflussung des Katecholamin-Stoffwechsels (Hemmung der Monoaminooxidase oder Katechol-O-Methyltransferase) wird in neueren Untersuchungen kontrovers beurteilt. (3, 4) Im Zusammenhang mit Depressionen werden weitere Wirkmechanismen diskutiert, die aber erst Gegenstand von tierexperimentellen Untersuchungen sind oder erst bei einigen wenigen Patienten geprüft wurden.(5) Die Wirkungen der übrigen Inhaltsstoffe des Johanniskrauts sind zum Teil noch kaum untersucht.
Johanniskraut-Extrakte sind in der Schweiz seit längerer Zeit erhältlich. Monopräparate heissen z.B. «Alpinamed nervöse Beschwerden», Hyperforat®, Remotiv® und Valverde Hyperval®. Im Vergleich mit diesen Präparaten ist Jarsin® 300 umfassender dokumentiert.(BMJ) Der in Jarsin® 300 enthaltene Hypericum-Extrakt LI 160 ist ein standardisierter Extrakt, der durch alkoholische Extraktion der Substanz aus getrockneten Johanniskrautblüten und -blättern gewonnen wird. 300 mg des Extraktes enthalten insgesamt 900 mg der verschiedenen Hypericine. Andere Inhaltsstoffe sind mengenmässig nicht standardisiert.

Pharmakokinetik

Messungen bei gesunden Männern, denen der Hypericum-Extrakt LI 160 in verschiedenen Dosen verabreicht wurde, ergaben, dass die beiden untersuchten Substanzen Hypericin und Pseudohypericin unterschiedliche pharmakokinetische Eigenschaften haben. Hypericin konnte nach ein- oder mehrmaliger Einnahme von verschiedenen Dosen etwa zwei bis zweieinhalb Stunden später im Plasma nachgewiesen werden. Die Eliminationshalbwertszeit wird mit etwa 25 Stunden angegeben.
Pseudohypericin wurde nach oraler Einnahme wesentlich rascher im Organismus nachgewiesen, nämlich bereits nach 20 Minuten bis etwa einer Stunde. Die Eliminationshalbwertszeit war in einem grösseren Bereich variabel und betrug 16 bis 36 Stunden.(6) Schätzungen zur Bioverfügbarkeit beider Substanzen betragen 14-21%.(7)
Zur Zeit liegen keine Daten über den Metabolismus, allfällige Metaboliten und Ausscheidungswege der beiden Substanzen vor.

Klinische Studien

Eine 1996 veröffentlichte Meta-Analyse umfasst 19 randomisierte Studien, in denen 726 Personen mit Johanniskraut-Extrakten behandelt wurden.(8) Acht dieser Studien wurden mit Jarsin® durchgeführt. Neuere kontrollierte Studien mit LI 160 (Jarsin®) wurden seither an einem Kongress für Phytotherapie vorgestellt.(9)
Dosisfindungsstudien mit LI 160 sind bisher offenbar nicht durchgeführt worden. In den meisten Studien wurde das Medikament in einer täglichen Dosis von 3mal 300 mg LI 160 verwendet, was einer Gesamthypericindosis von 2700 mg entspricht.
105 Personen mit einer mittelschweren Depression wurden in einer vier Wochen dauernden Doppelblindstudie entweder mit LI 160 (Tagesdosis von 900 mg) oder mit Placebo behandelt. In diese Studie wurden Personen aufgenommen, die Symptome einer Depression aufwiesen, die mit den Ziffern 300.4 (neurotische Depression) oder 309.0 (kurzdauernde depressive Reaktion) der ICD-9 vereinbar waren. Der Verlauf der Depression wurde anhand der «Hamilton Depression Scale» verfolgt. Die Behandelten beider Gruppen hatten bei Studienbeginn durchschnittlich etwa 16 Punkte auf der Hamilton-Skala, was einer leichten Depression entspricht. Nach zwei und vier Wochen Behandlung fand sich unter LI 160 eine statistisch signifikant stärkere Verbesserung der Symptomatik als unter Placebo. Im Vergleich mit Placebo sprachen Einschlafstörungen, depressive Stimmung und Angst auf LI 160 besser an.(10)
Ähnliche Resultate ergaben sich in einer anderen Placebo-Vergleichsstudie bei 72 Personen. In den ersten vier Behandlungswochen traten bei allen Behandelten (auch in der Placebogruppe) Verbesserungen des Zustandes auf. LI 160 erwies sich aber gemäss vier verschiedenen psychometrischen Skalen als statistisch signifikant wirksamer. Nach vierwöchiger Behandlung erhielt auch die Placebogruppe LI 160. Bei diesen Personen war erstaunlicherweise schon nach zwei Wochen aktiver Behandlung auf der Hamilton-Skala eine kleinere Punktzahl als in der anderen Gruppe nach vier Wochen aktiver Therapie erreicht.(11)
In einer Multizenter-Doppelblindstudie wurde LI 160 mit Imipramin (Tofranil®) verglichen. 135 ambulante Patienten erhielten während sechs Wochen entweder LI 160 (3mal 300 mg/Tag) oder Imipramin (3mal 25 mg/Tag). Als Aufnahmekriterien galten verschiedene depressive Zustandsbilder. Die Wirkung der Behandlung wurde anhand von drei Depressions-Skalen (Fremd- und Selbstbeurteilung) beurteilt. Zu Beginn der Studie betrug der Punktewert auf der Hamilton-Skala in beiden Gruppen durchschnittlich ungefähr 20. Während der Studie konnte in beiden Gruppen eine vergleichbare allmähliche Besserung des Zustandes beobachtet werden. Am Ende der Studie hatten LI-160-Behandelte auf der Hamilton-Skala durchschnittlich noch eine Punktzahl von 8,8, die Imipramin-Behandelten eine Punktzahl von 10,7 (kein signifikanter Unterschied).(12)
Gemäss vorläufigen Berichten ist LI 160 ferner in einer Doppelblindstudie bei 209 Personen mit schwerer Depression (Hamilton-Punktezahl über 20) in einer höheren Dosis (3mal 600 mg/Tag) mit Imipramin (3mal 50 mg/Tag) verglichen worden. Beide Medikamente waren wirksam, Imipramin tendenziell besser.(9)
In Praxen von Neurologen oder Psychiatern wurde LI 160 in einer vierwöchigen Doppelblindstudie auch mit Maprotilin (Ludiomil®) verglichen: 102 Personen mit mittelstark ausgeprägten Depression erhielten 3mal 300 mg LI 160 oder 3mal 25 mg Maprotilin täglich. Auch hier wurden drei Depressions-Skalen zur Beurteilung verwendet. Unter LI 160 wurde die Punktezahl auf der Hamilton-Skala durchschnittlich von 20,5 auf 12,2 Punkte gesenkt. Die Behandlung mit Maprotilin führte zu einer Verbesserung von 21,5 auf 10,5 Punkte. In beiden Behandlungsgruppen fanden sich etwa gleich viele Leute, die nicht auf die Behandlung ansprachen. Die Wirkung von Maprotilin scheint schneller einzusetzen als diejenige von LI 160.(13)
Im Vergleich mit Amitriptylin (3mal 25 mg/Tag) war LI 160 gemäss einem Kongressbericht in einer britischen, sechs Wochen dauernden Doppelblindstudie bei 165 Personen mit leichter bis mittelschwerer Depression weniger wirksam. Immerhin erreichte auch LI 160 eine deutliche Senkung der Punktezahl gemäss der Hamilton-Skala.(9)
Vergleiche mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern wurden bisher nicht publiziert. Auch liegen keine Studien vor, in denen der Johanniskraut-Extrakt parallel mit konventionellen Antidepressiva und Placebo verglichen wurde. Schliesslich sind auch keine Studien bekannt, in denen verschiedene Johanniskraut-Extrakte miteinander verglichen würden.

Unerwünschte Wirkungen

Fast alle Daten zu den unerwünschten Wirkungen von Johanniskraut-Extrakt beruhen auf verhältnismässig kurzen Studien. Dies gilt auch für eine grosse offene Studie, in der 3250 Personen in 663 Arztpraxen für vier Wochen LI 160 erhielten. In dieser Untersuchung klagten insgesamt nur knapp 2,5% der Behandelten über (vorwiegend gastrointestinale) Nebenwirkungen.(14)
In einzelnen kontrollierten Studien waren unerwünschte Ereignisse wesentlich häufiger, wenn auch in der Regel nur etwa halb so häufig wie unter trizyklischen Antidepressiva.(9)
Neben den erwähnten gastrointestinalen Symptomen (Brechreiz, Bauchschmerzen, Appetitverlust, Durchfall) wurden vereinzelt allergische Reaktionen, Müdigkeit und Schwindel beobachtet. Bei Weidetieren, die grosse Mengen von Johanniskraut aufgenommen haben, sind phototoxische Reaktionen bekannt. Es gibt Fallberichte, wonach Patienten nach der Einnahme von Johanniskrautextrakt juckende, erythematöse Läsionen auf sonnenexponierten Hautarealen entwickelten.(15)

Interaktionen
Bisher wurden keine Interaktionen beschrieben.

Dosierung/Verabreichung/Kosten

Jarsin® 300 ist als Dragées mit 300 mg Hypericum-Extrakt LI 160 (entsprechend 900 mg Gesamthypericin) in Apotheken und Drogerien rezeptfrei erhältlich. Es ist nicht kassenzulässig. Die Herstellerfirma empfiehlt die Einnahme von täglich 3 Dragées während mindestens zwei Wochen. Lichtempfindliche Personen sollten sich während einer Behandlung vor Sonnenbestrahlung schützen und keine Solarien aufsuchen.
Ob Johanniskraut-Extrakte in Schwangerschaft und Stillzeit ungefährlich sind, ist ungenügend dokumentiert. In der empfohlenen Dosis verursacht Jarsin® 300 je nach Packungsgrösse monatliche Kosten von 45 bis 50 Franken. Ein Vergleich mit anderen Johanniskraut-Präparate ist wegen der unterschiedlichen Dosierung schwierig. Trizyklische Antidepressiva kosten knapp halb soviel wie Jarsin®.

Kommentar

Ein pflanzliches Präparat zur Behandlung von Depressionen kommt den Wünschen vieler Leute entgegen. Die vorliegenden kontrollierten Studien scheinen zunächst auch eine bemerkenswerte Wirksamkeit und gute Verträglichkeit zu bestätigen.
Es sind aber noch recht viele Fragen offen. So ist z.B. unbekannt, welches die optimale Dosis ist; unklar ist auch, weshalb Wirkstoffe mit einer Halbwertszeit von 25 oder mehr Stunden täglich dreimal verabreicht werden sollten. Gerne wüsste man, ob sich nun dieser Extrakt (LI 300) tatsächlich nennenswert von anderen Johanniskraut-Extrakten unterscheidet. Es ist schade, dass in keinem einzigen Vergleich mit Trizyklika auch eine Placebo-Kontrolle mitgeführt wurde. Irritierend wirkt, dass viele Studien mehrfach publiziert wurden, ohne dass dies in den einzelnen Publikationen transparent wird. (Gemäss der erwähnten Meta-Analyse
(8) ist eine Studie nicht weniger als fünfmal, zum Teil mit verschiedenen Autoren, veröffentlicht worden.) Auch die Diagnosekriterien, die in den verschiedenen Studien nicht einheitlich appliziert wurden, können kritisiert werden. Schliesslich ist zu erwähnen, dass die vorliegenden Daten nicht garantieren, dass Johanniskraut-Extrakte gefahrlos auch langfristig verabreicht werden können.
So bleibt zu hoffen, dass diese Lücken in den nächsten Jahren allmählich gefüllt werden. Bei Patientinnen und Patienten mit leichten depressiven Symptomen, die ein pflanzliches Medikament wünschen und dieses auch selbst bezahlen wollen oder entsprechend versichert sind, ist jedoch nach heutigem Wissen ein befristeter Versuch mit einem Johanniskraut-Präparat sicher zu verantworten.

Literatur

  1. 1) Takahashi I et al. Biochem Biophys Res Commun 1989; 165: 1207-12
  2. 2) Perovic S, Müller WEG. Arzneimittelforschung 1995; 45: 1145-8
  3. 3) Bladt S, Wagner H. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): S57-9
  4. 4) Thiede HM, Walper A. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): S54-6
  5. 5) Thiele B et al. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): S60-2
  6. 6) Staffeldt B et al. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): S47-53
  7. 7) Kerb R et al. Antimicrob Agents Chemother 1996; 40: 2087-93
  8. 8) Linde K et al. Br Med J 1996; 313: 253-8
  9. 9) Barnes J. Inpharma 1996; 1058: 3-4
  10. 10) Sommer H, Harrer G. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1):9-11
  11. 11) Hänsgen KD et al. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): 15-8
  12. 12) Vorbach EU et al. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): 19-23
  13. 13) Harrer G et al. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): 24-8
  14. 14) Woelk H et al. J Geriatr Psychiatry Neurol 1994; 7 (Suppl 1): 34-38
  15. 15) Golsch S et al. Hautarzt 1997; 48: 249-52

Standpunkte und Meinungen

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Johanniskraut-Extrakt (29. Juli 1997)
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