Docetaxel
- Autor(en): Beat Staub
- pharma-kritik-Jahrgang 18
, Nummer 19, PK449
Redaktionsschluss: 21. Juli 1997 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Docetaxel (Taxotere®) ist ein Zytostatikum, das zur Behandlung bei lokal fortgeschrittenem oder metastasierendem Brustkrebs empfohlen wird, wenn dieser trotz einer vorausgehenden Anthrazyklin-haltigen Chemotherapie fortschreitet oder rezidiviert.
Chemie/Pharmakologie
Docetaxel gehört wie Paclitaxel (Taxol®) zur Klasse der Taxoide. Die Substanz wird semisynthetisch aus den Nadeln der europäischen Eibe (Taxus baccata) hergestellt. Docetaxel und Paclitaxel haben das gleiche Grundmolekül, unterscheiden sich jedoch durch verschiedene Seitenketten. Da es kaum wasserlöslich ist, wird Docetaxel in polyoxyethyliertem Sorbitol (Polysorbat 80) gelöst. Die zytotoxische Wirkung von Docetaxel und Paclitaxel beruht auf einer Stabilisierung der Mikrotubuli. Mikrotubuli sind wesentlich zur Bildung der für die Zellteilung notwendigen Mitosespindeln und sind daneben noch an weiteren Zellfunktionen beteiligt. Docetaxel und Paclitaxel begünstigen den Aufbau der Mikrotubuli und und verhindern deren Depolymerisation, wodurch die Zellteilung gestört wird. Docetaxel hat eine fast doppelt so grosse Bindungsaffinität zu den Mikrotubuli wie Paclitaxel.(1)
In vitro ist Docetaxel gegen Zellen von verschiedenen soliden Karzinomen (z.B. Mamma, Ovar, Prostata) sowie von Melanomen zytotoxisch. Verglichen mit Paclitaxel hatte Docetaxel in verschiedenen Zellkulturen eine mehrfach höhere Zytotoxizität.(2)
Pharmakokinetik
Docetaxel wird in einer intravenösen Infusion verabreicht. Im Blut wird es zum grössten Teil an Plasmaproteine gebunden und in die Gewebe verteilt. Laut Angaben der Herstellerfirma fand sich in Tierversuchen kein Docetaxel im Zentralnervensystem. Die Substanz wird durch Leberenzyme, insbesondere das Zytochrom CYP3A4, metabolisiert. Bisher hat man vier Metaboliten gefunden, die aber keine wesentliche zytotoxische Aktivität haben. Der hepatische Metabolismus zeigt grosse interindividuelle Unterschiede. Die Elimination erfolgt zu etwa 80% via Galle und Stuhl; im Urin finden sich nur kleinste Mengen unveränderter Substanz. Die terminale Halbwertszeit wird auf etwa 11 Stunden geschätzt.(3)
Klinische Studien
Im Rahmen von klinischen Studien wurden bisher mindestens 2000 Krebskranke mit Docetaxel behandelt. Dabei handelte es sich vor allem um Frauen mit fortgeschrittenem oder metastasierendem Mammakarzinom, die zum Teil auf andere Chemotherapeutika nicht angesprochen hatten. Zu einem kleineren Anteil handelte es sich um Personen mit nicht-kleinzelligen Bronchuskarzinomen oder anderen malignen Tumoren. Bisher liegen vor allem die Resultate von Phase II-Untersuchungen vor. In den verschiedenen Studien wurde in der Regel untersucht, wieviele Personen «vollständig» oder «teilweise» reagierten. Die WHO definiert eine «complete response» als Verschwinden aller bekannten Krankheitszeichen für mindestens 4 Wochen. Als «partial response» gilt eine mindestens fünfzigprozentige Verminderung der gesamten Tumormasse für mindestens 4 Wochen.
In einer Dosisfindungsstudie wurden 65 Personen mit verschiedenen malignen Tumoren mit unterschiedlichen Docetaxel-Dosen (zwischen 5 und 115 mg/m2 Körperoberfläche) behandelt. Eine dosisabhängige Neutropenie erwies sich als dosislimitierender Faktor. Die Autoren dieser Studie raten zu einer Dosis von 100 mg/m2 alle 3 Wochen. (4)
Mammakarzinom
Docetaxel als primäre Chemotherapie
37 Frauen mit metastasierendem Mammakarzinom wurden alle 3 Wochen mit Docetaxel-Infusionen behandelt. Initial wurden 100 mg/m2 verabreicht; zum Teil musste die Dosis später reduziert werden. An vorgängigen Behandlungen waren lediglich Hormontherapien oder seit mindestens 12 Monaten beendete adjuvante Chemotherapien zugelassen. Zwei Frauen hatten eine vollständige, 18 eine teilweise Remission. Die mediane Zeit bis zum Ansprechen dauerte 12 Wochen, die mediane Remissionsdauer betrug 26 Wochen.(5)
Unter ähnlichen Bedingungen wurden in einer kanadischen Studie 48 Frauen mit metastasierendem Mammakarzinom behandelt. Ungefähr ein Drittel der Frauen erhielt Docetaxel in einer Dosis von 75 mg/m2, die anderen 100 mg/m2, jeweils alle drei Wochen. Insgesamt kam es in 22 Fällen zu einer teilweisen, in 4 Fällen zu einer kompletten Remission. (6)
Docetaxel als zweite oder dritte Chemotherapie
In einer offenen Studie erhielten 32 Frauen mit einem metastasierenden Mammakarzinom alle 3 Wochen Docetaxel-Infusionen (zuerst 100 mg/m2, später z.T. in reduzierter Dosis). Alle Frauen hatten nach der initialen Therapie (Chirurgie, Radiotherapie, Hormontherapie) auch schon eine adjuvante Chemotherapie (n=9) oder eine erste Chemotherapie wegen Metastasen (n=23) erhalten. Bei 13 Frauen wurde eine teilweise, bei 2 Frauen eine vollständige Remission erreicht. Gesamthaft betrug die mediane Remissionsdauer 38 Wochen.(7)
Von 42 Frauen mit metastasierendem Mammakarzinom, die in gleicher Weise mit Docetaxel behandelt wurden, konnte die Wirksamkeit bei 35 beurteilt werden. Diese Frauen hatten vor Docetaxel mindestens eine und höchstens zwei Chemotherapien wegen Metastasen erhalten. Alle mussten mindestens ein Chemotherapie-Regime mit einem Anthrazyklin wie z.B. Doxorubicin (Adriblastin® u.a.) oder mit Mitoxantron (Novantron®) erhalten und dennoch eine Tumorprogression erlebt haben. Im Mittel wurden 5 Behandlungszyklen (100 mg/m2 alle 3 Wochen) verabreicht. Bei 3 Frauen, die allerdings alle nur Weichteilmetastasen hatten, kam es zu einer vollständigen Remission; bei 17 Frauen wurde eine teilweise Remission erreicht. Im Mittel betrug die Dauer der Remission 27 Wochen. (8)
Gemäss einem weiteren Bericht erhielten ferner 34 Frauen mit einem metastasierenden Mammakarzinom, das ebenfalls unter Behandlung mit Anthrazyklinen progredient war, Docetaxel in der üblichen Dosierung. Bei 18 Patientinnen konnte eine Teilremission erreicht werden, die im Mittel 7,5 Monate andauerte. Die mittlere Überlebenszeit der behandelten Frauen betrug 13,5 Monate.(9)
Die Kombination von Docetaxel mit anderen Zytostatika ist bisher erst in wenigen Pilotstudien untersucht worden; die vorliegenden Resultate lassen aber annehmen, dass sich mit Kombinationen von Docetaxel und Doxorubicin sowie eventuell Cyclophosphamid (Endoxan® u.a.) bei metastasierendem Mammakarzinom eine relativ hohe Remissionsrate erreichen lässt.(10, 11)
Bisher wurden keine direkten Vergleiche mit anderen Zytostatika publiziert; eine Studie, in der Docetaxel mit Paclitaxel (als Monotherapie) verglichen wird, ist im Gange.
Andere Tumoren
Bisher vorliegende Untersuchungen haben gezeigt, dass Docetaxel bei nicht-kleinzelligem Bronchuskarzinom, Magen- und Pankreaskarzinomen, Ovarialkarzinom, Melanom sowie bei Karzinomen im Kopf/Hals-Bereich Aktivität besitzt. Verschiedene Studien sind zur Zeit im Gange.
Unerwünschte Wirkungen
Wie Paclitaxel hat Docetaxel hat viele, zum Teil gefährliche Nebenwirkungen. Es verursacht bei mehr als 90% der Behandelten eine Neutropenie. Diese Wirkung ist dosislimitierend. Sie tritt vor allem bei Dosen über 70 mg/m2 auf; die kumulative Gesamtdosis scheint keine Rolle zu spielen. Die Neutropenie manifestiert sich 5 bis 12 Tage nach der Behandlung; der Tiefstpunkt der Neutrophilenzahl ist im Mittel nach 8 Tagen erreicht. Sehr oft sinken die Neutrophilenzahlen auf Werte unter 500/ml ab. Nach etwa einer Woche normalisiert sich die Neutrophilenzahl wieder. In den Studien mussten etwa 15% der Patienten wegen febriler Neutropenie hospitalisiert und/oder antibiotisch behandelt werden. Ein bis zwei Prozent der Behandelten sind im Zusammenhang mit einer Sepsis gestorben.(12) Thrombozytopenie und Anämie sind vergleichsweise seltener.
Sehr häufig sind toxische Auswirkungen auf die Haut, die Haare und die Nägel: Fast alle Behandelten erleiden eine Alopezie, sehr viele auch ausgeprägte Nagelveränderungen (verdünnte, gerillte Nägel, vereinzelt Onycholyse). Verschiedene Formen von Exanthemen, lichenoiden Veränderungen und Erythemen kommen bei mehr als 50% der Behandelten vor. Ähnlich häufig sind entzündliche Veränderungen der Schleimhaut z.B. des Mundes.
Bei etwa 50% entwickelt sich eine deutliche Flüssigkeitsretention, deren Entstehung noch nicht vollständig geklärt ist. Periphere Ödeme und Gewichtszunahme sind die häufigsten Symptome; in einzelnen Fällen wurde ein Pleuraerguss oder Aszites beobachtet. Die Flüssigkeitsretention scheint erst aufzutreten, wenn die kumulative Docetaxel-Dosis 395 mg/m2 überschreitet. Ebenfalls beinahe die Hälfte der mit Docetaxel behandelten Personen entwickelt periphere Neuropathien (vor allem Sensibilitätsstörungen). Diese Nebenwirkung ist möglicherweise ebenfalls von der kumulativen Dosis abhängig. Es ist noch nicht klar, ob die Neuropathie reversibel ist.(13)
Überempfindlichkeitsreaktionen (Ausschläge, Juckreiz, Fieber, seltener Bronchospasmen oder ein Blutdruckabfall), die oft schon bei der ersten Infusion auftreten, werden bei etwa 25% der Patienten beobachtet. Weitere häufige Nebenwirkungen sind Asthenie, Brechreiz/Erbrechen und Durchfall. Kardiotoxische Auswirkungen scheinen nicht aufzutreten.
Interaktionen
Da Docetaxel in der Leber durch das Zytochrom CYP3A4 metabolisiert wird, kann sein Stoffwechsel durch viele andere Medikamente beeinflusst werden, deren Stoffwechsel ebenfalls durch dieses Enzym erfolgt (Beispiele: Makrolidantibiotika, einzelne Azol-Antimykotika, einzelne Kalziumantagonisten). Klinisch dokumentiert sind diese Interaktionen aber bisher nicht.
Dosierung/Verabreichung/Kosten
Docetaxel (Taxotere®) ist als Stechampullen mit 20 oder 80 mg erhältlich. Das Medikament soll in einer Dosis von 100 mg/m2 Körperoberfläche als einstündige intravenöse Infusion verabreicht werden. Bei der wiederholten Verabreichung (alle 3 Wochen) muss die Dosis bei starken Nebenwirkungen (Hautveränderungen, Neuropathie) oder niedriger Neutrophilenzahl auf 75 oder eventuell auf 55 mg/m2 reduziert werden. Die speziellen Vorschriften zur Zubereitung und Verabreichung sind sorgfältig zu beachten.
Überempfindlichkeitsreaktionen und Flüssigkeitsretention können durch eine orale Kortikosteroidbehandlung reduziert werden. Es wird empfohlen, während 5 Tagen (einen Tag vor der Infusion beginnend) mit täglich 16 mg Dexamethason (z.B. Fortecortin®) zu behandeln. Docetaxel ist in der Schwangerschaft und in der Stillzeit kontraindiziert. Bei Personen mit Leberfunktionsstörungen (Lebermetastasen!) ist grosse Vorsicht angezeigt.
Das nicht-kassenzulässige Medikament kostet pro Infusion für eine durchschnittlich grosse Person in der erwähnten Dosierung etwa 2600 Franken. Paclitaxel (Taxol®) ist ungefähr gleich teuer.
Kommentar
Wie das nahe verwandte Paclitaxel ist Docetaxel zweifellos ein hochwirksames Chemotherapeutikum, das als Monotherapeutikum in bestimmten Situationen so viel erreicht wie «traditionelle» Kombinationen von Chemotherapeutika. Im Gegensatz zu Paclitaxel, dessen Wirksamkeit zuerst bei Ovarialkarzinom gezeigt wurde, ist Docetaxel vorläufig in erster Linie bei metastasierendem Mammakarzinom dokumentiert. Ob es relevante Unterschiede zwischen Docetaxel und Paclitaxel gibt, ist noch unbekannt. Die Indikationsstellung und Durchführung einer so teuren und so toxischen Behandlung gehört in den Bereich erfahrener Fachleute.
Literatur
- 1) Diaz JF, Andreu JM. Biochemistry 1993; 32: 2747-55
- 2) Braakhuis BJ et al. Anticancer Res 1994; 14: 205-8
- 3) Fulton B, Spencer CM. Drugs 1996; 51:1075-92
- 4) Extra JM et al. Cancer Res 1993; 53: 1037-42
- 5) Hudis CA et al. J Clin Oncol 1996; 14: 58-65
- 6) Trudeau ME et al. J Clin Oncol 1996; 14: 422-8
- 7) ten Bokkel Huinink WW et al. Ann Oncol 1994; 5: 527-32
- 8) Ravdin PM et al. J Clin Oncol 1995; 13: 2879-85
- 9) Valero V et al. J Clin Oncol 1995; 13: 2886-94
- 10) Nabholtz JM et al. Oncology 1997; 11 (Suppl 6): 25-7
- 11) Dieras V. Oncology 1997; 11 (Suppl 6): 17-20
- 12) Cortes JE, Pazdur R. J Clin Oncol 1995; 13: 2643-55
- 13) Hilkens PH et al. Ann Oncol 1997; 8: 187-90
Standpunkte und Meinungen
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