Zanamivir
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 21
, Nummer 02, PK295
Redaktionsschluss: 20. September 1999 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Zanamivir (Relenza®) ist ein Virostatikum, das zur Behandlung und Prophylaxe der Influenza A und B empfohlen wird.
Chemie/Pharmakologie
Damit Influenzaviren in eine menschliche Zelle eindringen können, müssen sie sich an einen Bestandteil der Zelloberfläche - die Sialinsäure - binden. Innerhalb der infizierten Zelle werden neue Viruspartikel gebildet. Diese Partikel sind zunächst ebenfalls von Sialinsäure umgeben. Die Viruspartikel spalten jedoch die Sialinsäure mittels eines Enzyms, der Neuraminidase, und können sich dann ausbreiten. Bei verschiedenen Subtypen der Neuraminidase ist die Aminosäurensequenz in dem für die Interaktion mit der Sialinsäure verantwortlichen Bereich konstant.
Zanamivir ist der erste verfügbare Neuraminidasehemmer. Seine Struktur wurde so von der Sialinsäure abgeleitet, dass die entsprechende Bindungsstelle besetzt wird. Da diese Bindungsstelle eine konstante Struktur hat, kann ein Neuraminidasehemmer die Replikation aller Influenza-Virusstämme hemmen.
Die Prüfung der virostatischen Aktivität von Zanamivir in vitro ergab sehr unterschiedliche Resultate in Abhängigkeit von den verschiedenen Prüfmethoden und Virusisolaten.
Pharmakokinetik
Wird Zanamivir geschluckt, so ist es nur minimal biologisch verfügbar (zu etwa 2%), da es gastrointestinal kaum resorbiert wird. Das Medikament wird deshalb als Trockenpulver durch den Mund inhaliert. Wie allgemein nach oraler Inhalation finden sich anschliessend über 75% der verabreichten Dosis im Oropharynx. Etwa 15% einer Dosis werden resorbiert. Die Plasmaspiegel (maximal etwa 1 bis 2 Stunden nach der Inhalation) sind entsprechend niedrig. Nach intravenöser Verabreichung beträgt die Halbwertszeit von Zanamivir etwa 1,5 Stunden. Nach oraler Inhalation ist die Halbwertszeit scheinbar deutlich länger (3 bis 5 Stunden), d.h. die Ausscheidung ist wahrscheinlich durch die Resorption limitiert. Zanamivir wird unverändert über die Nieren ausgeschieden; mehr als 80% einer intravenös verabreichten Dosis finden sich im Urin.(1)
Bei Personen mit stark reduzierter Nierenfunktion ist deshalb mit erhöhten Plasmaspiegeln zu rechnen, die jedoch als unproblematisch gelten.
Klinische Studien
Erste klinische Studien zur Wirksamkeit von Zanamivir in der Behandlung der Influenza gehen auf die Jahre 1994/95 zurück. In diesen Untersuchungen wurde nach der besten Dosis und nach der besten Applikationsart gesucht. Die Beurteilung erfolgte aufgrund der von den behandelten Personen aufgezeichneten Symptomintensität. Als primärer Endpunkt der Studien war die Zeit festgelegt, nach der die Behandelten während 24 Stunden die fünf wichtigsten Grippesymptome (vgl. Tabelle 1) als abwesend oder beinahe verschwunden bezeichneten («deutliche Besserung»).
In einer multizentrischen Doppelblindstudie wurden 417 Personen mit einer grippeähnlichen Erkrankung drei Gruppen zugeteilt: Die erste Gruppe erhielt 6,4 mg Zanamivir als Nasalspray und 10 mg Zanamivir als orale Inhalation, die zweite Gruppe erhielt nur die orale Inhalation (und einen Placebo-Nasalspray) und die dritte Gruppe erhielt sowohl nasal als auch oral Placebo. Die Behandlung erfolgte zweimal täglich für 5 Tage, erstmals spätestens 48 Stunden nach Auftreten der ersten Symptome. Im Vergleich mit der Placebogruppe erreichten die mit dem Virostatikum Behandelten den beschriebenen Endpunkt einen halben Tag früher. Zwischen den beiden aktiv behandelten Gruppen fand sich kein Unterschied. Wenn nur diejenigen Personen berücksichtigt werden, bei denen eine Influenzavirus-Infektion bestätigt werden konnte (n=262), betrug der Unterschied gegenüber Placebo ein Tag. Bei Personen, deren Behandlung später als 30 Stunden nach Auftreten erster Symptome begann, fand sich kein Nutzen.(2)
In einer grösseren Doppelblindstudie wurden vier verschiedene Gruppen gebildet, die zweimal oder viermal täglich Zanamivir-Nasalspray (6,4 mg) und orale Zanamivir-Inhalation (10 mg) bzw. zweimal oder viermal Placebo erhielten. 1256 Personen wurden in diese Studie aufgenommen; Zanamivir verkürzte den Medianwert bis zu einer «deutlichen Besserung» um einen Tag - unter Placebo dauerte es 7, unter Zanamivir nur 6 Tage. Bei denjenigen, die zu Beginn Fieber hatten (mind. 37,8°C), verkürzte das Virostatikum die Krankheitsdauer stärker. Personen, die das Medikament viermal täglich erhielten, hatten keinen höheren Nutzen. Wurde Zanamivir später als 30 Stunden nach Beginn der Symptome genommen, so ergab sich kein signifikanter Unterschied zu Placebo.(3)
Die Zulassung von Zanamivir zur Behandlung einer Influenza beruht vorwiegend auf drei neueren Doppelblindstudien, in denen insgesamt 1588 Grippekranke (davon 1167 mit nachgewiesenem Influenzavirus-Infekt) behandelt wurden. Einzelheiten sind bisher erst zu einer dieser Studien veröffentlicht:
In Australien, Neuseeland und Südafrika wurden im Winter 1997 insgesamt 455 Personen mit Grippesymptomen während 5 Tagen entweder mit Zanamivir (2mal täglich 10 mg als Pulverinhalation) oder mit Placebo behandelt. Die Therapie musste spätestens 36 Stunden nach dem Auftreten erster Symptome beginnen. Zur Beurteilung des Behandlungserfolgs wurde wiederum die Zeitspanne bis zu einer «deutlichen Besserung» verwendet. Im Vergleich mit Placebo trat die Besserung unter Zanamivir signifikant (um 1,5 Tage) früher ein (Medianwert). Bei Personen mit erhöhtem Komplikationsrisiko (z.B. mit chronischen Atemwegserkrankungen oder im Alter ab 65) war der Unterschied zugunsten von Zanamivir noch deutlicher. In dieser Gruppe wurde aber nur bei 52 Personen eine Influenzavirus-Infektion nachgewiesen; statistisch war der Unterschied nicht signifikant.(4)
Eine entsprechende europäische Studie ergab bei 356 Grippekranken unter Zanamivir sogar eine Verkürzung der Zeitspannne um 2,5 Tage bis zur «deutlichen Besserung».
Die bisher grösste Studie (nach demselben Protokoll) wurde in Nordamerika durchgeführt und umfasste 777 Grippekranke, wovon 569 mit nachgewiesenem Influenza-Infekt. In dieser Studie ergab sich aber keine signifikante Verkürzung der Krankheitsdauer: im Gesamtkollektiv wurde die «deutliche Besserung» unter Zanamivir nur einen halben Tag früher erreicht. Auch bei den 109 Personen mit erhöhtem Risiko wurde mit 1 Tag kein signifikanter Unterschied gefunden.
Da in den bisherigen Studien weit mehr Personen mit Influenza A infiziert waren, kann wenig zu einer Influenza-B-Infektion ausgesagt werden. Es scheint jedoch, dass die Wirksamkeit von Zanamivir bei den beiden Virustypen vergleichbar ist.
Zur Wirksamkeit von Zanamivir in der Influenza-Prophylaxe ist bisher erst eine Studie in den Einzelheiten veröffentlicht worden. In dieser Doppelblindstudie erhielten 1107 gesunde Erwachsene (vorwiegend Studierende von zwei amerikanischen Universitäten) während 4 Wochen einmal täglich 10 mg Zanamivir (orale Pulverinhalation) oder Placebo. Die Zahl der Grippefälle wurde eine Woche über die Einnahmedauer hinaus registriert. In dieser Zeit erkrankten aber nur relativ wenige Personen an einem fieberhaften Infekt: in der Placebo-Gruppe waren es 58 von 554 und in der Zanamivir-Gruppe 33 von 553. Ein Influenzainfekt mit Fieber wurde in der Placebo-Gruppe bei 19, in der Zanamivir-Gruppe nur bei 3 Personen nachgewiesen.(5)
Im Rahmen dieser Studie mussten also 35 Personen prophylaktisch Zanamivir einnehmen, um einen Fall von fieberhafter Influenza zu verhindern.
Unerwünschte Wirkungen
Gemäss vorläufigen Resultaten einer Studie bei Grippekranken, die zudem an Asthma bronchiale oder an einer chronisch-obstruktiven Lungenkrankheit leiden, kann die Atemwegsobstruktion unter Zanamivir zunehmen: das maximale Atemsekundenvolumen (FEV1) war in der Zanamivir-Gruppe häufiger um 20% oder mehr reduziert als bei Placebo-Behandelten. Es ist also möglich, dass einzelne Personen mit Atemwegserkrankungen unter Zanamivir Bronchospasmen entwickeln.
Im übrigen waren unerwünschte Symptome (Kopfschmerzen, pharyngeale Irritation u.a.) in den bisher durchgeführten Studien unter Zanamivir nicht häufiger als unter Placebo.
Bisher sind keine bedeutsamen Interaktionen von Zanamivir mit anderen Medikamenten bekannt geworden.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Zanamivir (Relenza®) ist in zwei Packungsgrössen (mit 20 bzw. 28 Einzeldosen zu 5 mg) zur Inhalation mittels Diskhaler erhältlich. Zur Behandlung sollen während 5 Tagen zweimal täglich 10 mg (jeweils 2 Einzeldosen) durch den Mund inhaliert werden. Die Behandlung soll so rasch wie möglich (am 1. oder 2. Tag nach dem Auftreten erster Symptome) begonnen werden. Zur Prophylaxe wird in der Schweiz empfohlen, während 2 bis 4 Wochen täglich zwei Einzeldosen (= 10 mg) zu inhalieren. (In den USA ist das Präparat nicht zur Prophylaxe zugelassen.) Das Medikament ist bisher nicht kassenzulässig. Die Verträglichkeit des Präparates bei schwangeren und stillenden Frauen sowie bei Kindern bis zum Alter von 12 Jahren ist noch nicht dokumentiert.
Die kleinere Packung (20 Dosen) kostet CHF 78.55, die grössere Packung (28 Dosen) CHF 109.95. Zum Vergleich: eine Influenzaimpfung kostet zwischen 10 und 20 Franken.
Kommentar
Neuraminidasehemmer sind klug erdachte und vielversprechende Virostatika. Dennoch enttäuschen die heute vorliegenden Daten zum ersten Vertreter dieser Arzneimittelgruppe. Das Medikament dürfte eine Grippe um einen, allerhöchstens um zwei Tage verkürzen, vorausgesetzt, dass es sich überhaupt um eine Influenzavirus-Infektion handelt. Ob es z.B. bei älteren Leuten mehr Nutzen bringt, ist noch ganz unsicher, wurden doch bisher erst relativ wenig Personen über 65 in die Studien eingeschlossen. Daten zu einer prophylaktischen Wirkung hinsichtlich Grippekomplikationen sind noch kaum vorhanden. Die Anwendung von Zanamivir als Grippeprophylaktikum ist sehr dürftig dokumentiert. Wenn - wie in der oben erwähnten Studie - tatsächlich 35 Personen vier Wochen lang präventiv behandelt werden müssten, um eine fieberhafte Influenzaerkrankung zu verhindern, so kostete diese Prävention rund 7700 Franken. Es besteht kein Grund, die Influenzaimpfung (deren Nutzen relativ gut etabliert ist) zu vernachlässigen. Solange nicht bessere Daten vorliegen, würde ich die Anwendung von Zanamivir nicht empfehlen.
Literatur
- 1) Cass LMR et al. Clin Pharmacokinet 1999; 36 (Suppl 1): 1-11
- 2) Hayden FG et al. N Engl J Med 1997; 337: 874-80
- 3) Monto AS et al. J Infect Dis 1999; 180: 254-1
- 4) The MIST (Management of Influenza in the Southern Hemisphere Trialists) Study Group. Lancet 1998; 352: 1877-81
- 5) Monto AS et al. JAMA 1999; 282: 31-5
Standpunkte und Meinungen
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