Idarucizumab
- Autor(en): Alexandra Röllin
- pharma-kritik-Jahrgang 38
, Nummer 12, PK1012
Redaktionsschluss: 7. April 2017
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2016.1012 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Mit Idarucizumab (Praxbind®) ist das erste Antidot für eines der neuen oralen Antikoagulantien erhältlich. Es wirkt der Antikoagulation durch den Thrombinhemmer Dabigatran (Pradaxa®) entgegen. Das Medikament wurde von den amerikanischen und europäischen Arzneimittelbehörden in einem beschleunigten Verfahren zugelassen und ist in der Schweiz seit September 2016 im Handel.
Chemie/Pharmakologie
Idarucizumab ist das Antigen-bindende Fragment eines humanisierten monoklonalen Antikörpers. Es hat eine mehr als 300-mal stärkere Bindungsaffinität zu Dabigatran als dieses zu Thrombin. Es bildet mit Dabigatran einen stabilen Komplex, wodurch die Wirkung von Dabigatran neutralisiert wird. Auch aktive Metaboliten von Dabigatran werden neutralisiert, nicht aber andere Antikoagulantien. In vitro hebt Idarucizumab so innerhalb von wenigen Minuten die Wirkung von Dabigatran die mittels Tests geprüfte Gerinnungshemmung auf. In Abwesenheit von Dabigatran soll Idarucizumab keinen Einfluss auf die Gerinnung haben und auch nicht thrombogen wirken.(1,2)
Pharmakokinetik
Idarucizumab wird intravenös verabreicht; innerhalb von rund 5 Minuten nach Infusionsende ist der Effekt von Dabigatran auf die Gerinnungsparameter aufgehoben. Diese Wirkung hält bei Dosen ab 2,5 g im Mittel für mehr als 48 Stunden an. Als Protein wird Idarucizumab über Protein-Abbauwege und nicht über Zytochrome metabolisiert. 32% der Antikörperkomplexe werden unverändert im Urin ausgeschieden; nach Anwendung von Idarucizumab kann es deshalb vorübergehend zu einer Proteinurie kommen.(1)
Klinische Studien
Die Zulassung von Idarucizumab beruht lediglich auf drei nur teilweise publizierten Phase-1-Studien bei insgesamt 283 gesunden Freiwilligen,(1,3,4) sowie den Resultaten einer Interimsanalyse einer prospektiven, nicht-kontrollierten Kohortenstudie bei mit Dabigatran behandelten Personen.(5)
Die drei Studien bei Freiwilligen dienten zur Untersuchung der Pharmakokinetik und der Dosisfindung. Das Medikament wurde dabei hauptsächlich bei gesunden jungen Männern mit normaler Nierenfunktion getestet.(3,4) Nur in einer der drei Studien wurde auch ein kleiner Prozentsatz von Frauen, älteren Personen und Personen mit leicht bis mittelschwer eingeschränkter Nierenfunktion untersucht.(1) Nach Vorbehandlung mit zweimal 150 oder 220 mg Dabigatran erhielten die untersuchten Personen verschiedene Idarucizumab-Dosen (1-8 g) oder Placebo. Der primäre Endpunkt entsprach der Aufhebung der Antikoagulation, die mittels Ecarinzeit und «verdünnter Thrombinzeit» gemessen wurde. Diese beiden Tests (siehe Tabelle) werden für die Messung der Dabigatran-Wirkung empfohlen, stehen aber nicht routinemässig in jedem Spital zur Verfügung.(6) Mit Ausnahme eines einziges Falls führte die Anwendung von Idarucizumab bei allen untersuchten Personen innerhalb von 5 Minuten zur kompletten Aufhebung der Antikoagulation. Je nach Dosis dauerte diese Wirkung unterschiedlich lange an, bei Dosen ab 2,5 g im Mittel für mehr als 48 Stunden. Die schliesslich zugelassene Dosis von 5 g wurde insgesamt nur bei 35 Personen getestet.(1,3,4)
Im Rahmen der Kohortenstudie mit dem Namen REVERSE-AD sollten bis zu 300 Personen (gemäss dem Eintrag in einem Studienregister sogar 500 Personen) untersucht werden, die unter Dabigatran entweder lebensbedrohliche Blutungen erleiden oder einer dringlichen Operation bedürfen, welche die Aufhebung der Gerinnungshemmung notwendig macht.(7,8) Diesen wird Idarucizumab in der zugelassenen Dosis von 2x 2,5 g in zwei Kurzinfusionen im Abstand von höchstens 15 Minuten verabreicht. Der primäre Endpunkt ist die innerhalb von vier Stunden erreichte Aufhebung der Antikoagulation. Bis jetzt ist eine Zwischenanalyse der Resultate bei 90 Personen publiziert, die bis im Februar 2015 in die Studie aufgenommen wurden.(5)
Sie waren im Mittel 77 Jahre alt; die meisten nahmen Dabigatran aufgrund eines Vorhofflimmerns ein. 51 davon litten an einer lebensbedrohlichen Blutung (Gruppe A) und bei 39 stand eine Operation oder ein invasiver Eingriff an (Gruppe B). Bei 22 (24%) der untersuchen Personen stellte sich im Nachhinein heraus, dass ihre verdünnte Thrombinzeit bei Studienbeginn normal war und bei 9 Personen (10%) galt dasselbe für die Ecarinzeit – was bedeutet, dass sie die Behandlung mit Idarucizumab gar nicht benötigt hätten. Somit konnte die Aufhebung der Antikoagulation nur für 68 (verdünnte Thrombinzeit) bzw. 81 Personen (Ecarinzeit) ausgewertet werden. Bei diesen wurde in mehr als 89% innerhalb der ersten vier Stunden eine komplette Aufhebung der Antikoagulation erreicht. Nach 12 Stunden bzw. 24 Stunden lag die verdünnte Thrombinzeit bei 90% bzw. 81% der untersuchten Personen im Normbereich, die Ecarinzeit bei 72% bzw. 54%.
Aufgrund der fehlenden Vergleichsgruppe sind Aussagen zum klinischen Nutzen aus methodischen Gründen nicht möglich. Gemäss den Angaben in den Zulassungsunterlagen, welche die klinischen Daten zu den 123 Personen (66 in Gruppe A und 57 in Gruppe B) umfassen, konnte nur bei 48 (73%) Personen der Gruppe A der Verlauf der Blutung dokumentiert werden. Bei 44 davon konnte die Blutung innerhalb von 72 Stunden gestoppt werden, die mediane Blutungszeit betrug rund 10 Stunden. In der Gruppe B wurde die intraoperative Hämostase bei 48 von 52 beurteilten Personen als normal beurteilt, dabei handelte es sich jedoch um eine subjektive Einschätzung im Wissen um die bereits erfolgte Verabreichung von Idarucizumab. In beiden Gruppen starben je 13 Personen. 25% der intrakraniellen und 11% der gastrointestinalen Blutungen verliefen tödlich.(1) Stützt man sich auf indirekte Vergleiche, so war die Sterblichkeit bei intrakraniellen und gastrointestinalen Blutungen unter Dabigatran nach Gabe von Idarucizumab in REVERSE-ID nicht geringer als ohne das Antidot in der Zulassungsstudie für Dabigatran.(9) Dazu passt auch ein kürzlich publizierter Fallbericht einer gastrointestinalen Blutung, welche auch unter Idarucizumab nicht gestillt werden konnte.(10)
Idarudizumab wurde klinisch weder mit Placebo noch mit Prothrombinkomplex-Konzentraten verglichen. Zwar wird der Einfluss von letzteren auf die Gerinnungsparameter und den klinischen Verlauf von Blutungen unter Dabigatran als widersprüchlich beschrieben, bisher wurde ihre Verwendung jedoch teilweise empfohlen.(11,12) Die Anwendung einer zweiten Dosis von 5 mg Idarucizumab, wie sie bei sehr hoher Dabigatran-Exposition (Überdosierung, schwere Niereninsuffizienz) empfohlen wird, wurde insgesamt nur an zwei Personen geprüft.(1)
Unerwünschte Wirkungen
Aufgrund der geringen Anzahl Personen, denen das Medikament verabreicht wurde, ist eine abschliessende Aussage zu den unerwünschten Wirkungen nicht möglich. Bei den gesunden Freiwilligen waren Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Durchfall, Migräne und Muskelverspannungen unter Idarucizumab (n=224) numerisch häufiger als unter einem Placebo, dabei waren Kopfschmerzen das einzige Symptom, das bei mehr als 5% der Betroffenen auftrat. Bei den mit Idarucizumab behandelten Kranken (n=123) waren Hypokaliämie, Delir, Obstipation, Fieber und Pneumonie die häufigsten unerwünschten Symptome, mangels einer Placebo-Gruppe können sie aber nicht eindeutig dem Medikament zugeordnet werden. Es traten insgesamt 5 thromboembolische Ereignisse auf. In Einzelfällen wurden Bronchospasmen, Hyperventilation und Hautausschläge als Hinweis auf eine Überempfindlichkeit beschrieben, was grundsätzlich gut zur Protein-Natur von Idarucizumab passt.(1,3-5)
Nach Anwendung von Idarucizumab entwickelten 8% der behandelten Personen Antikörper. Diese schienen aber bei wiederholter Anwendung nicht zu einer verminderten Wirkung von Idarucizumab zu führen. Die Menge Sorbitol, die die Idarucizumab-Infusionslösung enthält, ist so hoch, dass sie bei hereditärer Fruktoseintoleranz zu schweren – bis tödlichen – Nebenwirkungen führen kann.
Da die ersten fünf Buchstaben des generischen Namens genau gleich lauten, besteht Verwechslungsgefahr mit dem Zytostatikum Idarubicin (Zavedos®).
Interaktionen
Bis jetzt sind keine Interaktionen bekannt, auch nicht mit Gerinnungsfaktoren oder Antikoagulantien.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Idarucizumab ist offiziell zugelassen bei «schweren, nicht kontrollierbaren Blutungen unter Therapie mit Dabigatran». Die empfohlene Dosis beträgt 5 g, sie soll intravenös als zwei aufeinanderfolgende Infusionen (zu 2,5 g) über je 5 bis 10 Minuten oder als Bolusinjektion verabreicht werden. Bei Personen mit einer leichten bis mittelschweren Niereninsuffizienz und bei solchen mit einer reduzierten Leberfunktion soll keine Dosisreduktion nötig sein. Daten zur Dosierung bei schwerer Niereninsuffizienz liegen nicht vor. Ebenso wurde die Substanz weder bei Kindern und Jugendlichen noch bei Schwangeren untersucht.
Die Anwendung einer weiteren Dosis von 5 mg Idarucizumab kann bei erneutem Auftreten einer klinisch relevanten Blutung zusammen mit verlängerten Gerinnungszeiten in Erwägung gezogen werden.
Da Idarucizumab nicht auf der Spezialitätenliste fungiert, ist für die Schweiz kein offizieller Preis verfügbar. In den EU-Ländern, in denen das Präparat nur im Spital verabreicht werden darf, liegt der Preis für die empfohlene Dosis von 5 g bei rund € 2'500, in den USA bei rund $ 3'500.
Kommentar
Zwar ist die Entwicklung von Antidoten, welche die Antikoagulation durch direkte orale Antikoagulantien (DOAK) in Notfallsituationen rasch aufzuheben vermögen, grundsätzlich begrüssenswert. Im Falle von Idarucizumab beschert uns das umstrittene beschleunigte Zulassungsverfahren der amerikanischen und europäischen Arzneimittelbehörden jedoch ein Medikament, über das wir kaum etwas Verlässliches wissen: ein Medikament, dessen Wirkung nicht durch prospektive, klinische Vergleichsstudien belegt ist und dessen Risiken aufgrund der geringen Anzahl behandelter Personen kaum abgeschätzt werden können. Man mag einwenden, dass dies bei einem Medikament, das einzig in Notfallsituationen angewendet werde, belanglos sei – frei nach dem Motto «besser irgendetwas tun als gar nichts» – und sich auf den Standpunkt der Studienverantwortlichen von REVERSE-AD stellen, welche Doppelblindstudien in dieser Situation für unethisch halten.(7) Doch wie ethisch ist es, ein so kostspieliges Präparat mit unklarem Nebenwirkungs-Potential einer nicht unerheblichen Anzahl von Personen zu verabreichen, welche es gar nicht benötigen? Dies war ja im Rahmen von REVERSE-AD immerhin bei jedem vierten Behandelten der Fall! Da die Gerinnungstests zum Messen der Dabigatran-Wirkung nicht routinemässig zur Verfügung stehen, ist anzunehmen, dass dies im klinischen Alltag noch viel häufiger geschehen wird.
Literatur
- 1) EMA-Dokument Idarucizumab: https://goo.gl/lwRe7K
- 2) Schiele F et al. Blood 2013; 121: 3554-62
- 3) Glund S et al. Lancet 2015; 386: 680-90
- 4) Glund S et al. Thromb Haemost 2015; 113: 943-51
- 5) Pollack CV et al. N Engl J Med 2015; 373: 511-20
- 6) Noll A. American College of Cardiology 2015: http://pkweb.ch/2o4xxL4
- 7) Pollack CV et al. Throm Haemost 2015; 114: 198-205
- 8) Eintrag Studienregister clinicaltrials.gov: https://goo.gl/xIx7yp
- 9) EMA-Dokument zu Dabigatran: https://goo.gl/HfPhx8
- 10) Alhashem HM et al. Am J Emerg Med 2017; 35: 193.e3-5
- 11) Enriquez A et al. Europace 2016; 18: 955-64
- 12) Aronis KN, Hylek EM. J Thromb Thrombolysis 2016; 41: 253-72
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