Lurasidon

Lurasidon (Latuda®), ein neues Neuroleptikum, wird zur Behandlung der Schizophrenie empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Lurasidon ist ein Benzisothiazolderivat und ist somit entfernt mit den Benzisoxazolen wie Risperidon (Risperdal® u.a.) verwandt. Es besetzt Dopamin-D2-Rezeptoren und die Serotoninrezeptoren 5-HT2A and 5-HT7 mit hoher Affinität, was eine antagonistische Wirkung zur Folge hat. Ob der Bindung an den 5-HT7-Rezeptor eine besondere Bedeutung zukommt, ist bisher nicht definitiv geklärt. Das Medikament bindet sich auch stark an den 5-HT1A-Rezeptor, wobei es hier als partieller Agonist wirkt. Es hat anderseits – im Gegensatz z.B. zu Olanzapin (Zyprexa® u.a.) – nur eine geringe Affinität zu Histamin-H1- und muskarinischen Rezeptoren.

Pharmakokinetik

Nach oraler Einnahme erreicht Lurasidon innerhalb von 1,5 bis 3 Stunden maximale Plasmaspiegel. Die Bioverfügbarkeit ist gering, zwischen 9 und 19%; wenn das Mittel mit einer Mahlzeit zusammen eingenommen wird, findet sich gegenüber der Einnahme auf nüchternen Magen eine zwei- bis dreifach höhere Verfügbarkeit. Lurasidon wird extensiv im Körper verteilt und gelangt auch rasch in das ZNS. Es wird über verschiedene Wege metabolisiert, vorwiegend unter Mitwirkung von CYP3A4. Zwei pharmakologisch aktive Metaboliten tragen möglicherweise zur Wirkung bei.(1) Weitere Metaboliten sind pharmakologisch inaktiv. Bei wiederholter Verabreichung liegt die Plasmahalbwertszeit zwischen 29 und 37 Stunden; ein Fliessgleichgewicht wird nach rund 7 Tagen erreicht. Die Ausscheidung der Metaboliten erfolgt vorwiegend mit dem Stuhl; im Urin finden sich nur etwa 9%. Ist die Nierenfunktion aber mässig bis stark eingeschränkt, ergeben sich dennoch deutlich erhöhte Lurasidon-Plasmaspiegel. Dasselbe gilt für eine mittelschwere bis schwere Leberinsuffizienz. Das Medikament ist im Tierversuch Placenta-gängig und findet sich auch in der Milch.

Klinische Studien

Gemäss einer Übersicht wurden mit Lurasidon mindestens neun randomisierte Kurzzeit-Studien bei Personen mit Schizophrenie durchgeführt;(1) die meisten dieser Studien sind publiziert und haben Resultate ergeben, die ungefähr den im Folgenden beschriebenen Beispielen entsprechen.

In einer Doppelblindstudie über 6 Wochen wurde Lurasidon in verschiedenen Tagesdosen (40, 80 und 120 mg) mit Placebo verglichen (PEARL 1). Aufgenommen wurden 486 Erwachsene, die unter einem akuten Rückfall einer Schizophrenie litten und entsprechend bestimmte Mindestwerte auf psychiatrischen Beurteilungsskalen (CGI-S, PANSS, Abkürzungen siehe Tabelle 1) erreichten. In den vier Behandlungsarmen – zu je etwa 120 Personen – wurde in erster Linie geprüft, wie sich Lurasidon auf positive und negative Symptome der Schizophrenie auswirkt (anhand der PANSS-Werte). Auch unerwünschte Auswirkungen wurden genau erfasst (siehe unten). Die 80-mg-Tagesdosis ergab das beste Resultat: sowohl die PANSS-Werte als Ganzes wie auch die Werte für positive Symptome und der CGI-S-Wert wurden gegenüber Placebo signifikant gebessert. Mit der 120-mg-Tagesdosis ergab sich nur für positive Symptome ein signifikanter Unterschied; die 40-mg-Dosis liess sich statistisch nicht von Placebo unterscheiden.(2)

In einer weiteren, ebenfalls 6 Wochen dauernden Doppelblindstudie (PEARL 3) wurden zwei Lurasidon-Tagesdosen (80 und 160 mg) und retardiertes Quetiapin (600 mg/Tag, z.B. Seroquel XR®) mit Placebo verglichen. Auch hier wurden Personen mit einem akuten Schizophrenie-Rückfall – insgesamt 488 – aufgenommen. Der primäre Endpunkt der Studie war die Veränderung des Wertes auf der PANSS nach 6 Wochen (Vergleich mit Placebo). Sekundär wurden auch die Veränderungen der Werte auf mehreren weiteren Skalen (CGI-S, MADRS, NSA-16) geprüft. Gegenüber Placebo fanden sich für beide Lurasidon-Dosen wie auch für Quetiapin signifikant bessere Werte auf den genannten Skalen.(3)

In einer anderen Placebo-kontrollierten Doppelblindstudie von sechs Wochen Dauer (PEARL 2) ergab Lurasidon auch ähnliche Resultate wie Olanzapin.(4) Eine Vergleichsstudie mit Haloperidol (Haldol® u.a.), in der keine der aktiven Therapien besser als Placebo wirkte, gilt als «missraten».(1)

In einer Langzeit-Doppelblindstudie wurde in erster Linie die Verträglichkeit von Lurasidon untersucht (siehe «Unerwünschte Wirkungen»). 629 ambulante Kranke, die entweder an Schizophrenie oder einer schizoaffektiven Psychose litten, erhielten in dieser 12 Monate dauernden Studie Lurasidon oder Risperidon (z.B. Risperdal®). Die Dosierung konnte in vorbestimmten Abstufungen individuell angepasst werden und lag für Lurasidon zwischen 40 und 120 mg/Tag, für Risperidon zwischen 2 und 6 mg/Tag. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten vor der Studie eine stabile Neuroleptika-Behandlung erhalten haben. Die anhand der verschiedenen Skalen (PANSS, CGI-S, MADRS) gemessene psychotische Aktivität nahm unter beiden Medikamenten kontinuierlich ab; Rückfälle traten ebenfalls in beiden Gruppen ähnlich häufig (etwa in 20%) auf.(5)

Allen diesen Studien ist gemeinsam, dass – wie generell bei Studien mit antipsychotischen Medikamenten – sehr viele Patientinnen und Patienten vor dem Studienende aus den Studien ausschieden. In der zuletzt erwähnten Langzeitstudie betrug beispielsweise die tatsächliche Teilnahmedauer in der Lurasidongruppe im Durchschnitt nur 181 Tage (in der Risperidongruppe war die Dauer allerdings signifikant länger, nämlich 293 Tage).

In einer offenen Studie wurde geprüft, wie man am besten vorgeht, wenn Lurasidon ein anderes Neuroleptikum ersetzen soll. 240 Personen erhielten während einer «nicht-akuten» Phase einer Schizophrenie oder schizoaffektiven Psychose initial 40 mg, 80 mg oder für eine Woche 40, dann 80 mg Lurasidon pro Tag. Während dieser Zeit wurde das bisher verabreichte Neuroleptikum zuerst reduziert und dann ganz abgesetzt. Anschliessend wurde Lurasidon individuell dosiert (Tagesdosen zwischen 40 und 120 mg). Bei knapp 8% der Behandelten kam es zu einem Abbruch der Behandlung oder zu einer Exazerbation der Krankheit; diese Fälle verteilten sich gleichmässig auf die drei Umstellungsstrategien. Bei Personen, die vor der Studie ein «sedierendes» Neuroleptikum wie Olanzapin oder Quetiapin erhalten hatten, war ein Behandlungsversagen etwa doppelt so häufig als bei denjenigen, die ein «nicht-sedierendes» Medikament erhalten hatten.(6)

Lurasidon wurde auch bei bipolaren Störungen untersucht (7) und ist seit Mitte 2013 in den USA, jedoch nicht in der Schweiz, für die Behandlung der Depression bei bipolaren Störungen zugelassen.

Unerwünschte Wirkungen

Unter Lurasidon wurden in den Studien insbesondere folgende unerwünschte Wirkungen beobachtet: Akathisie (bei 15% der Behandelten), Brechreiz (12%), Sedation (12%), Somnolenz (11%), Parkinson-Symptome (11%), Schlaflosigkeit (8%), Erregungszustände (6%). Diese Symptome waren mindestens doppelt so häufig als unter Placebo; das Auftreten von Akathisie und von Brechreiz/Erbrechen war dosisabhängig. Besonders unter höheren Lurasidon-Dosen war auch ein Anstieg der Prolaktinspiegel zu beobachten. Im Vergleich mit Quetiapin fällt unter Lurasidon die geringere Schläfrigkeit und das Fehlen einer Gewichtszunahme auf. Der Langzeitvergleich mit Risperidon zeigte, dass letzteres häufiger zur Gewichtszunahme und zu Obstipation führt, während Lurasidon häufiger Akathisie und Brechreiz verursacht. Seitens der Laboruntersuchungen konnte nur unter Risperidon eine ungünstige Beeinflussung der Lipid- und der Glukosewerte festgestellt werden. Bisherige Untersuchungen haben keinen Hinweis auf eine bedeutsame Verlängerung des QT-Intervalls ergeben; in diesen Studien war allerdings der Anteil Frauen (die eher gefährdet sind) klein.

Interaktionen

Grundsätzlich können alle zentralnervös aktiven Medikamente (und Alkohol) die Lurasidonwirkungen beeinflussen. Da das Medikament überwiegend via CYP3A4 metabolisiert wird, sollte es nicht in Kombination mit starken CYP3A4-Hemmern oder -Induktoren angewendet werden. Auch viele antimikrobiell, antiviral und antimykotisch wirksame Medikamente, Diltiazem (Dilzem® u.a.) sowie Grapefruitsaft hemmen CYP3A4; entsprechende Vorsicht ist angezeigt. Lurasidon ist selbst ein schwacher Hemmer verschiedener Zytochrome; klinische Belege dazu fehlen.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Lurasidon (Latuda®) ist in der Schweiz als Filmtabletten zu 40 und zu 80 mg erhältlich und kassenzulässig. (Eine 120-mg-Tablette ist zur Zeit nicht im Handel.) Empfohlen wird eine Tagesdosis von 40 bis 80 mg, allenfalls mehr (maximal 160 mg/Tag). Das Medikament soll mit einer Mahlzeit zusammen eingenommen werden. Bei einem Wechsel von einem «sedierenden» Neuroleptikum (z.B. Olanzapin) auf Lurasidon ist Vorsicht geboten, da eine «Rebound»-Schlafstörung und Unruhe auftreten können. Das Medikament ist bei Kindern und Jugendlichen nicht dokumentiert; während der Schwangerschaft und Stillzeit wird besser auf Lurasidon verzichtet.

Lurasidon kostet monatlich CHF 170.- (40 mg/Tag) bzw. 273.- (80 mg/Tag). Generische Quetiapin-Retardpräparate (monatlich CHF 125.- für 600 mg/Tag) und erst recht Risperidon-Generika (monatlich CHF 50.- für 4 mg/Tag) sind billiger.

Kommentar

Mögliche Vorteile von Lurasidon sind bisher erst in kurzen Studien und einer einzigen Langzeitstudie – alle mit dem Handicap der zahlreichen vorzeitigen Studienabbrüche – dokumentiert worden. Sollten weitere Langzeitstudien und die klinische Erfahrung bestätigen, dass dieses Neuroleptikum tatsächlich ein geringeres Risiko einer Gewichtszunahme und entsprechenden metabolischen Folgen aufweist, so wäre Lurasidon sicher als valable Alternative zum schon länger verfügbaren Angebot anzusehen.

Standpunkte und Meinungen

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Lurasidon (20. Oktober 2014)
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pharma-kritik, 36/No. 8
PK938
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