Memantin
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 25
, Nummer 13, PK86
Redaktionsschluss: 2. Dezember 2003
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2003.86 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Memantin (Axura®, Ebixa®) kommt nächstens neu in der Schweiz auf den Markt; das Medikament wird zur Behandlung einer mittelschweren bis schweren Alzheimer-Demenz empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Memantin ist ein Dimethylderivat von Amantadin (Symmetrel ® u.a.) und wurde initial als Parkinsontherapeutikum ausgetestet.
Bei Demenz könnte Memantin folgendermassen wirken: In der Pathogenese der Alzheimer-Krankheit spielen N-methyl-Daspartat- Rezeptoren (NMDA-Rezeptoren) eine Rolle. Glutamat, der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter, regt unter anderem auch NMDA-Rezeptoren an. Bei einer Alzheimer- Krankheit ist die glutamatergische Übertragung an NMDARezeptoren wahrscheinlich gestört. Daraus sollen sich eine neuronale Kalzium-Überbelastung und eine Nervenschädigung ergeben. Ähnlich wie Amantadin oder z.B. auch Dextromethorphan (Bexin® u.a.) wirkt Memantin als Antagonist an NMDA-Rezeptoren, weshalb eine therapeutische Wirksamkeit der Substanz bei Alzheimer-Demenz vermutet wurde.
Während Memantin in Tierversuchen experimentell erzeugte Hirnschäden reduzierte, ergaben Studien bei gesunden Freiwilligen in Bezug auf Gedächtnisleistungen teilweise widersprüchliche Resultate.(1)
Pharmakokinetik
Nach oraler Einnahme wird Memantin vollständig resorbiert und zu 100% biologisch verfügbar. Maximale Plasmaspiegel werden nach 3 bis 7 Stunden erreicht. Die Substanz wird nurwenig metabolisiert und zum grössten Teil unverändert im Urin ausgeschieden. In der Niere wird Memantin tubulär sezerniert und teilweise reabsorbiert. Drei Metaboliten sind bekannt; diese haben praktisch keine antagonistische Aktivität an den NMDA-Rezeptoren. Hepatische Zytochrome scheinen bei der Metabolisierung keine signifikante Rolle zu spielen. Die terminale Halbwertszeit von Memantin beträgt 60 bis 80 Stunden. Das Medikament wurde bei Niereninsuffizienz nicht genauer untersucht; es ist jedoch anzunehmen, dass eine reduzierte Nierenfunktion zu erhöhten Memantinspiegeln führt.(2)
Klinische Studien
Memantin ist in Deutschland seit rund 20 Jahren erhältlich und ist dort bisher in erster Linie zur Behandlung von vorwiegend frühen Stadien von Demenzen verschiedener Ursache eingesetzt worden.(3) Das Medikament ist in den letzten Jahren bei genauer umschriebenen Demenzformen geprüft worden und ist jetzt unter anderem auch in den USA zugelassen.
Alzheimer-Demenz
In einer Doppelblindstudie erhielten 252 Personen mit einer mittelschweren bis schweren Form von Alzheimer-Demenz während 28 Wochen Memantin (20 mg/Tag) oder Placebo. Eine leichte Demenz (z.B. ein Wert von über 14 in der «Mini- Mental State Examination» [MMSE]) und andere, insbesondere vaskuläre Demenzformen galten als Ausschlusskriterien. Nur 72% der Teilnehmenden beendeten die Studie nach Plan. Die Beurteilung erfolgte primär anhand von zwei Skalen («Clinician’s Interview-Based Impression of Change Plus Caregiver Input» = CIBIC-Plus und eine Modifikation der «Alzheimer’s Disease Cooperative Study Activities of Daily Living Inventory» = ADCS-ADL). Beide Skalen ergaben Vorteile von Memantin. Berücksichtigt man auch die letzten Daten der Personen, die vorzeitig ausschieden, so nahm der ADCS-ADL-Wert unter Memantin durchschnittlich von 26,8 nur auf 23,7 ab, unter Placebo dagegen von 27,4 auf 22,2. Gemäss der CIBIC-Plus- Bewertung war Memantin nicht signifikant überlegen. Von 5 weiteren Skalen, die angewandt wurden, zeigten nur 2 ein statistisch signifikant besseres Resultat für Memantin.(4)
In einer bisher erst als Abstract veröffentlichten, 6 Monate dauernden Doppelblindstudie wurde Memantin (20 mg/Tag) oder Placebo zu einer Behandlung mit Donepezil (Aricept®) hinzugefügt. Neben ADCS-ADL wurden hier in erster Linie Veränderungen im Bereich der «Severe Impairment Battery» (SIB) berücksichtigt. Besonders die letztere Skala zeigte unter Memantin eine signifikant geringere Abnahme der Behinderung.(5)
Verschiedene Demenzformen
Eine 12 Wochen dauernde Doppelblindstudie diente dem Vergleich von Memantin in einer Dosis von 10 mg/Tag mit Placebo bei 166 Personen mit fortgeschrittener Demenz (MMSEWert unter 10). Etwa die Hälfte der Behandelten hatte eine Alzheimer-Demenz, die anderen eine vaskuläre Demenz. Die Wirkung wurde mit zwei Skalen beurteilt, die statistisch signifikante Vorteile von Memantin zeigten.(6) Diese Studie ist jedoch wegen offensichtlicher methodischer Mängel wenig aussagekräftig. (7)
Zwei Doppelblindstudien wurden bei Personen mit einer leichten bis mittelschweren vaskulären Demenz durchgeführt: Diese dauerten 28 Wochen und dienten dem Vergleich zwischen Memantin (20 mg/Tag) und Placebo. Beide ergaben eine statistisch signifikante Wirkung von Memantin auf kognitive Funktionen, jedoch keine nennenswerten Auswirkungen auf den Gesamtzustand oder auf die Alltagsaktivitäten der Behandelten.(8,9)
In älteren, kleineren Studien wurden Personen mit leichter bis mittelschwerer Demenz (ohne genaue ätiologische Definition) mit Memantin (20-30 mg/Tag) behandelt. Diese Studien zeigten zwar nach 6 Wochen Behandlung Vorteile von Memantin gegenüber Placebo, genügen jedoch aktuellen methodologischen Ansprüchen kaum.(10)
Unerwünschte Wirkungen
Schwindel, Kopfschmerzen, Halluzinationen, Schlafstörungen und Durchfall wurden im Rahmen der klinischen Studien unter Memantin häufiger als unter Placebo beobachtet; etwa 5% der mit Memantin Behandelten berichteten jeweils über eines dieser Symptome.(1) Gemäss den Erfahrungen in Deutschland kommen zudem eine «innere» oder «motorische» Unruhe, Übererregung oder Müdigkeit vor. Das Medikament kann bei Personen mit einer erhöhten Anfallsbereitschaft die Krampfschwelle senken.
Interaktionen
Die gleichzeitige Verabreichung von Memantin mit wirkungsverwandten Substanzen wie z.B. Amantadin oder anderen NMDA-Antagonisten ist bisher nicht untersucht worden, könnte jedoch zu verstärkten zentralnervösen Wirkungen führen. Mit Cholinesterasehemmern wie Donepezil zusammen wurden jedoch keine ungünstigen Auswirkungen beobachtet.
Dosierung/Verabreichung/Kosten
Memantin (Axura®, Ebixa®) soll initial in einer Dosis von 5 mg täglich gegeben werden. Im Laufe eines Monats kann die Dosis auf 2mal 10 mg täglich gesteigert werden. (Obwohl die Substanz eine lange Halbwertszeit hat, wird anscheinend aus Verträglichkeitsgründen empfohlen, das Medikament zweimal täglich zu verabreichen.) Tabletten zu 10 mg sollen in der Schweiz offiziell ab Januar 2004 erhältlich sein. Ende November 2003 ist der Preis noch nicht festgelegt; in Deutschlandkostet eine 20-mg-Tagesdosis umgerechnet über 7 Franken, also deutlich mehr als übliche Dosen von Cholinesterasehemmern.
Für die Anwendung bei schwangeren und stillenden Frauen existieren zu wenig Daten. Bei eingeschränkter Nierenfunktion ist eine Dosisreduktion notwendig.
Kommentar
Wenn die Autoren der aktuellen Cochrane-Review zu Memantin schreiben, mehr und längere Studien bei besser definierten Gruppen von Kranken seien notwendig,10 so kann dies nur unterstrichen werden. Zwar scheint es, dass Memantin sowohl bei Alzheimer-Kranken (nur in fortgeschrittenen Stadien?) als auch bei Personen mit vaskulärer Demenz (nur in frühen Stadien?) einen kleinen Nutzen hervorbringt. Dokumentiert wurde dieser Nutzen allerdings nicht anhand von «harten» Endpunkten, sondern mit verschiedenen Beurteilungsskalen, deren Qualitäten durchaus auch angezweifelt werden können. Allein die Tatsache, dass in einer Prestige-Zeitschrift ein Studienbericht erschienen ist,4 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Memantin keineswegs einen Durchbruch in der Alzheimer- Behandlung darstellt. Es wäre höchst verwunderlich, wenn dies in den 20 Jahren klinischer Anwendung in Deutschland nicht schon längst entdeckt worden wäre. Besonders die fortgeschrittenen Stadien einer Demenz stellen im übrigen nicht nur therapeutische, sondern auch ethische Probleme. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig zu wissen, ob eine Behandlung die Lebensqualität der Kranken und der Pflegepersonen vorteilhaft beeinflusst.
Literatur
- 1) Jarvis B, Figgitt DP. Drugs Aging 2003; 20: 465-76
- 2) http://www.fda.gov/cder/foi/label/2003/021487lbl.pdf
- 3) Förstl H. Drugs Aging 2003; 20: 477
- 4) Reisberg B et al. N Engl J Med 2003; 348: 1333-41
- 5) Farlow MR et al. Neurology 2003; 60 (Suppl 1): A412
- 6) Winblad B, Poritis N. Int J Geriatr Psychiatry 1999; 14: 135-46
- 7) Mani RB. FDA Efficacy Review of New Drug Application
- 8) Wilcock G et al. Int Clin Psychopharmacol 2002; 17: 297-305
- 9) Orgogozo JM et al. Stroke 2002; 33: 1834-9
- 10) Areosa SA, Sherriff F. Cochrane Database Syst Rev 2003; (1): CD003154
Standpunkte und Meinungen
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