Was uns fehlt

Ein Blick in ein 60- oder 70-jähriges Arzneimittelbuch lässt erahnen, wie unbefriedigend die Pharmakotherapie noch vor weniger als einem Menschenleben war. Viele der damals verwendeten Mittel waren unsicher in der Wirkung, reich an unerwünschten Nebeneffekten und in der Regel klinisch ungenügend dokumentiert. Dies hat sich gesamthaft doch sehr verändert. Vielleicht sind wir uns im Alltag zu wenig bewusst, in wie hohem Masse diese Verbesserung den komplexen Anforderungen zu verdanken sind, die heute an humanmedizinisch verwendete Pharmaka gestellt werden. Während man sich früher oft mit Überlegungen zum Wirkungsmechanismus und mit Daten aus der experimentellen Pharmakologie begnügte, stehen heute die Resultate vergleichender klinischer Studien im Vordergrund. Erhöhte Ansprüche, strengere Vorschriften haben zu den verbesserten Therapiemöglichkeiten entscheidend beigetragen. Dennoch gibt es weiterhin bedeutsame Lücken. 

Wenn wir uns überlegen, in welchen Bereichen wir ein besonders akutes Defizit unserer Pharmakotherapie spüren, so drängt sich der Gedanke an die völlig unbefriedigende Prävention und Therapie dementieller Erkrankungen in den Vordergrund. Während uns heute im Bereich der kardiovaskulären Therapie wie auch – mindestens teilweise – in der Onkologie recht wirksame Mittel zur Verfügung stehen, sind wir bei Demenzen noch verhältnismässig hilflos. Die Binsenwahrheit, dass Demenzen gerade deshalb häufiger geworden sind, weil die beiden wichtigsten «Killer» wirksamer bekämpft werden können, bringt uns nicht weiter. Es ist mir schon bewusst, dass viel geforscht wird. Konsultiert man die Medline-Datenbank, so findet man mit der Stichwort-Kombination  «dementia + research» annähernd 4000 Texte zu klinischen Studien. Ein wirklicher Durchbruch – eine zuverlässige Prävention oder gar eine wirksame Therapie von Demenzen – steht jedoch aus. Die Tatsache, dass intensiv geforscht wird, lässt immerhin hoffen, dass ein solcher Durchbruch doch einmal erreicht wird. Wann dieses Ziel realisiert werden kann, ist zur Zeit aber noch weitgehend unklar.

In der Alltagspraxis sind wir allerdings noch mit anderen, gewissermassen banaleren Defiziten konfrontiert. So empfinde ich die Tatsache, dass es besonders bei chronischen Erkrankungen kaum eine problemlose Schmerzbehandlung gibt, als sehr störend. Nicht vergebens waren in diesem pharma-kritik-Jahrgang fünf Texte den verschiedensten Schmerzmittel-Problemen gewidmet. Die Hoffnung, die sich vor einigen Jahren mit der Entwicklung der COX-2-Hemmer ergab, hat sich bekanntlich in eine Enttäuschung verwandelt. Dass uns die Diskussion über die COX-2-Hemmer-Problematik besser bewusst gemacht hat, dass auch die nicht-selektiven Entzündungshemmer bedeutsame kardiovaskuläre Risiken mit sich bringen, ist zwar wichtig. Nützlicher wäre es, wenn es gelungen wäre, neue Schmerzmittel mit tatsächlich geringerem Nebenwirkungs-Potential zu entwickeln. Ob zur Zeit genügend zu den Analgetika geforscht wird, kann ich nicht zuverlässig beurteilen. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass uns die letzten Jahre keinen nennenswerten Fortschritt auf dem Gebiet der Schmerzbehandlung gebracht haben.

Dass wir – trotz sonst sehr bemerkenswerten Resultaten auf dem Gebiet der antiviralen Therapie – nach wie vor über keine kausale Behandlung der respiratorischen Virusinfekte verfügen, mag in Anbetracht des glücklicherweise selten bedrohlichen Charakters grippaler Infekte nicht unsere wichtigste Sorge sein. Was Oseltamivir (Tamiflu®) anbelangt, ist festzustellen, dass banale (nicht von Influenza-Viren verursachte) Infekte bekanntlich nicht auf dieses Medikament ansprechen. Selbst wenn Oseltamivir «Erreger-gerecht» eingesetzt wird, existieren berechtigte Zweifel an seinem Nutzen.(1) Wenn sich allerdings die häufigsten Erreger grippaler Infekte wirksam direkt bekämpfen liessen, wäre uns mehrfach gedient:  So liessen sich nicht nur die lästigen Symptome reduzieren, sondern auch enorme volkswirtschaftliche Vorteile  – weniger Krankheitstage – erreichen.

Daneben könnte man noch eine ganze Reihe von Krankheiten und gesundheitlichen Störungen aufzählen, die sich nur halbwegs befriedigend behandeln lassen. Aus meiner Sicht wenig überzeugend sind die Möglichkeiten, die uns in der Hausarztpraxis zur Therapie von psychosomatischen oder psychischen Störungen gegeben sind. Besonders bei älteren Leuten sind Antidepressiva mit verschiedenen Nachteilen verbunden; dies gilt wahrscheinlich auch für die aktuell so «beliebten» selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), Venlafaxin (Efexor® u.a.) und Mirtazapin (Remeron®).(2)

Was die Schlafmittel anbelangt, wäre mit Melatonin möglicherweise ein verhältnismässig gutartiges Mittel verfügbar. Die Tatsache, dass zu dieser Substanz auch heute noch keine überzeugenden Vergleiche mit anderen Schlafmitteln vorliegen,(3) zeugt von der Nachlässigkeit, mit der ein nicht-patentierbares Mittel von der forschenden Industrie behandelt wird. Das einzige in der Schweiz erhältliche Melatonin-Präparat (Circadin®) zeichnet sich zudem durch einen geradezu obszönen Preis aus. 

Dass zur Behandlung von Angst- und Spannungszuständen keine Medikamente zur Verfügung stehen, die frei von Gewöhnungsrisiko sind, ist ebenfalls ein Problem, das uns die Alltags-Sprechstunde erschwert.

So lautet der Schluss dieser kurzen Übersicht, dass es nicht nur «grosse» Probleme wie die Demenzen, sondern auch sehr gewöhnliche Alltagsbeschwerden sind, für die uns gut dokumentierte und gut verträgliche Pharmaka fehlen.

Standpunkte und Meinungen

  • Datum des Beitrags: 19. Oktober 2011 (08:17:42)
  • Verfasst von: Dr.med. Peter Schönbucher, Hausarzt, Psychosomatik (Luzern)
  • Behandlung von Angst- und Spannungszuständen soll nicht primär pharmakologisch sein.
    Behandlung von Angst- und Spannungszuständen soll nicht primär pharmakologisch sein. (Primär danke für den Artikel - die Lenkung der Pharmakaforschung sollte sich nach den Bedürfnissen der Anwender richten. ) Viele gesundheitliche Störungen sind allerdings Ausdruck einer biologisch sinnvollen Reaktion, zB auch die Alarmierung angesichts einer Gefahr, auch Resignation angesichts der Unerreichbarkeit von Zielen oder Trauer. Solche pharmakologisch wegzubehandeln ist 'normal' in unserer Medizinkultur. Dies wird auch nicht richtiger durch bessere Pharmaka. - Da wären wir bei einer fundamentaleren 'Pharmakritik'.
Was uns fehlt (3. August 2011)
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pharma-kritik, 32/No. 20
PK827
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