Insulin-Glargin

Insulin-Glargin (Lantus®) ist ein vom Humaninsulin abgeleitetes, gentechnisch hergestelltes Insulin mit einer langen Wirkungsdauer.

Chemie/Pharmakologie

Insulin-Glargin wird mittels rekombinanter Gentechnologie aus Zellkulturen von E. coli hergestellt. Im Vergleich mit dem Humaninsulin ist bei diesem Analoginsulin an der Position 21 der A-Kette Asparagin durch Glycin ersetzt; ferner sind am C-Ende der B-Kette 2 Argininmoleküle angefügt. Insulin-Glargin ist in saurem Milieu löslich; die Injektionslösung ist im Gegensatz zu anderen langwirkenden Insulinen völlig klar. Nach der Injektion wird es im subkutanen Gewebe neutralisiert und bildet dann amorphe kleine Präzipitate. So wird erreicht, dass dieses Insulin nur langsam resorbiert wird, was zu einer langen Wirkungsdauer führt.(1)

Insulin-Glargin bindet sich wie normales Humaninsulin an die Insulinrezeptoren und löst grundsätzlich auch dieselben physiologischen und biochemischen Reaktionen wie Humaninsulin aus. In Bezug auf den «Insulin-like Growth Factor 1» (IGF-1), der mitogene Insulin-Wirkungen vermittelt, findet sich in vitro ein Unterschied: Insulin-Glargin weist eine höhere Affinität zu diesem Rezeptor auf als Humaninsulin.(1) Bei männlichen Mäusen und Ratten fanden sich nach längerer Behandlung mit hohen Dosen maligne Histiozytome an den Injektionsstellen; die meisten Tierversuche ergaben jedoch keine Hinweise auf eine tumorstimulierende Wirkung. (2) Die klinische Relevanz der höheren Affinität zu IGF-1 ist nicht geklärt.

Pharmakokinetik

Gegenüber den Depotinsulinen (wichtigstes Beispiel: «Neutral Protamine Hagedorn», NPH, z.B. Insulatard® HM) wird Insulin- Glargin nach subkutaner Injektion langsamer resorbiert: die Wirkung setzt daher erst nach etwa 1½ Stunden ein, während dies für NPH-Insulin bereits ungefähr nach einer Stunde der Fall ist. Bei gesunden Versuchspersonen wurde Insulin-Glargin bei der Injektion in den Arm, in das Bein oder unter die Bauchhaut ähnlich gut resorbiert.

Insulin-Glargin ergibt über fast 24 Stunden gleichmässige Spiegel; NPH- und andere Depotinsuline dagegen erreichen nach einigen Stunden ein Spiegelmaximum (und damit auch ein Wirkungsmaximum), anschliessend fallen die Spiegel ab. Der gleichmässige Spiegelverlauf unter Insulin-Glargin gleicht demjenigen, der mit einer subkutanen Insulinpumpe erreicht wird.(3) Ebenfalls ähnlich wie bei der Anwendung einer Insulinpumpe ist unter Insulin-Glargin eine geringere interindividuelle Variation der Spiegel als unter bisher verwendeten Depotinsulinen zu beobachten. Im subkutanen Gewebe und im Blut können neben Insulin-Glargin auch zwei aktive Metaboliten nachgewiesen werden. Es gibt keine Hinweise auf eine längerfristige Kumulation des Insulins im Blut.

Pharmakokinetik-Daten zur Anwendung bei Kindern oder bei Personen mit eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion fehlen.

Klinische Studien

Insulin-Glargin ist sowohl bei Typ-1-Diabetes als auch bei Typ-2-Diabetes untersucht worden; zahlreiche Studien sind allerdings bisher noch nicht ausführlich veröffentlicht worden (nur als Abstracts verfügbar).

Typ-1-Diabetes

Bei Typ-1-Diabetes wurde Insulin-Glargin fast ausschliesslich als Alternative zu ein- oder zweimal verabreichtem NPH-Insulin untersucht. In den randomisierten Studien, die grundsätzlich nicht doppelblind durchgeführt wurden, wurden insgesamt etwas mehr als 3000 Personen mit Typ-1-Diabetes nach dem Basis-Bolus-Prinzip behandelt, d.h. alle erhielten ihr kurzwirkendes Insulin (zu den Mahlzeiten) unverändert. (Ein doppelblindes Verfahren würde zusätzlichen Aufwand erfordern,
da sich die trübe Injektionslösung von NPH-Insulin einfach erkennen lässt.)

In der bisher grössten ausführlich publizierten Multizenterstudie erhielten 619 Personen, die seit mindestens einem Jahr NPH-Insulin als Basisinsulin und seit mindestens 3 Monaten Insulin-Lispro (Humalog®) als kurzwirkendes Insulin verwendeten, entweder Insulin-Glargin (n=310) oder weiterhin NPH-Insulin (n=309). Die Dosierung des letzteren erfolgte ein- oder zweimal täglich, wie vor der Studie. In der Insulin-Glargin- Gruppe nahm der Nüchternblutzucker signifikant stärker ab als
in der NPH-Insulin-Gruppe. Am Ende der Studie, nach 16 Wochen, war unter Insulin-Glargin der Nüchtern-Glukosewert durchschnittlich um 1,7 mmol/l tiefer als zu Beginn; in der NPH-Gruppe betrug der entsprechende Unterschied nur 0,6 mmol/l. Das glykosylierte Hämoglobin (HbA1c) veränderte sich jedoch in beiden Gruppen kaum (Abnahme um 0,1%).(4)

In anderen grossen Studien senkte Insulin-Glargin den Nüchtern- Blutzucker ebenfalls stärker als NPH-Insulin, jedoch meistens nicht in statistisch signifikantem Ausmass.(1) So wurden z.B. in einer grossen 28wöchigen Studie, die bisher erst in Abstractform veröffentlicht ist, die Nüchtern-Blutzuckerwerte mit Insulin-
Glargin im Mittel nur gerade um 0,28 mmol/l stärker als mit NPH-Insulin gesenkt. Auch die Verbesserung des HbA1c(Insulin-Glargin –0,21%, NPH-Insulin –0,10%) war nicht signifikant unterschiedlich.(5) In einigen längeren Studien, von denen die Einzelheiten aber noch nicht bekannt sind, ergab das neue Insulin jedoch im Vergleich mit NPH-Insulin eine signifikant deutlichere Senkung des glykosylierten Hämoglobins.(1)

In verschiedenen Studien fanden sich auch Hinweise, dass sich die Behandelten unter Insulin-Glargin besser fühlten als unter NPH-Insulin.

In kleinen, bisher nur summarisch veröffentlichten Studien wurde untersucht, ob mit einer auf Insulin-Glargin beruhenden Basis-Bolus-Therapie ähnliche Resultate wie mit einer subkutanen Insulinpumpe zu erreichen seien. Die Resultate sind nicht schlüssig.(1) In zwei Studien bei Kindern und Jugendlichen hat Insulin-Glargin im Vergleich mit NPH-Insulin ähnliche Resultate wie in den Studien bei Erwachsenen ergeben; die HbA1c- Spiegel wurden von der Therapie aber nicht gesenkt.(1)

Typ-2-Diabetes

Auch Personen mit einem Typ-2-Diabetes müssen oft mit Insulin behandelt werden. In diesen Fällen kann z.B. eine tägliche Dosis eines Depotinsulins mit den oralen Antidiabetika kombiniert oder auch ausschliesslich mit Insulin behandelt werden. In den bisher bei Typ-2-Diabetes durchgeführten Studien wurde Insulin-Glargin randomisiert, aber nicht doppelblind (siehe oben), mit NPH-Insulin verglichen; die Studien umfassen etwa 3500 Personen.

Die Kombination mit einem oralen Antidiabetikum wurde in einer 24wöchigen Studie bei 695 Personen untersucht, deren Typ-2-Diabetes ungenügend eingestellt war. Das orale Regime aller dieser Personen wurde zunächst auf Glimepirid (Amaryl®, 3mg/Tag) umgestellt. Nach 4 Wochen erhielten 232 Personen NPH-Insulin abends, 227 erhielten Insulin-Glargin abends und 236 erhielten Insulin-Glargin am Morgen. Die Insulindosis wurde in allen Fällen aufgrund der Blutzuckerwerte und allfälliger Hypoglykämien individuell austitriert. In der Gruppe mit der morgendlichen Insulinverabreichung wurde im Vergleich mit den beiden anderen Gruppen eine signifikant stärkere Senkung des glykosylierten Hämoglobins erreicht: das HbA1c nahm in der besten Gruppe durchschnittlich um 1,24% ab, in den anderen Gruppen nur um 0,84 bzw. 0,96%. Die Blutzuckerwerte verbesserten sich in allen Gruppen in ähnlichem Ausmass.(6)

Eine andere Studie befasste sich mit Personen, die ihren Typ-2- Diabetes ausschliesslich mit Insulin behandelten. Für 28 Wochen erhielten 259 Personen NPH-Insulin und 259 Insulin- Glargin als Basisinsulin in individuell adaptierter Dosis. Unter NPH-Insulin sanken die HbA1c-Werte stärker (knapp nichtsignifikant,
um durchschnittlich 0,59%) als unter Insulin- Glargin (0,41%).(7)

Weitere Studienresultate bestätigen grundsätzlich diese Daten: mit der abendlichen Verabreichung von Insulin-Glargin werden bezüglich Nüchtern-Blutzuckerwerte und HbA1cähnliche Verbesserungen wie mit NPH-Insulin erreicht.(1)

Unerwünschte Wirkungen

Hypoglykämien sind das Hauptproblem jeder Insulinbehandlung. Mindestens was die nächtlichen Hypoglykämien anbelangt, scheint sich Insulin-Glargin vorteilhaft von NPH-Insulin zu unterscheiden. Gemäss einer – bisher nur als Abstract veröffentlichten – Metaanalyse, die 2304 Personen mit Typ-2-Diabetes umfasst, sind unter Insulin-Glargin symptomatische Hypoglykämien sogar allgemein (nicht nur in der Nacht) signifikant seltener als unter NPH-Insulin. Das relative Risiko einer nächtlichen Hypoglykämie ist gemäss dieser Analyse bei Insulin-Glargin um 29% kleiner.(8) Diese Aussage findet sich allerdings in den oben beschriebenen grossen Studien bei Typ-1-Diabetes nur teilweise bestätigt.(4,5) In einer Studie waren bei denjenigen, die zweimal täglich NPH-Insulin spritzten, bezüglich nächtlicher Hypoglykämien kein Vorteil von Insulin-Glargin auszumachen.(9)
Ein weiteres Problem der Insulinbehandlung ist die Gewichtszunahme bei Typ-2-Diabetes. Insulin-Glargin hatte in verschiedenen Studien eine geringere Gewichtszunahme zur Folge als NPH-Insulin. Langzeitresultate lassen jedoch annehmen, dass dieser Unterschied temporär ist und dass auch unter Insulin- Glargin mit einer Gewichtszunahme zu rechnen ist, die sich wenig von den Effekten anderer Insuline unterscheidet.(1)
Lokale Reaktionen (Rötung, Schmerzen, Schwellung, Juckreiz) werden bei 3 bis 4% der mit Insulin-Glargin behandelten Personen beobachtet, deutlich häufiger als mit NPH-Insulin. Nach bisherigen Beobachtungen ist es nicht wahrscheinlich, dass Insulin-Glargin vermehrt zur Bildung von Antikörpern gegen Insulin führt.
Da unter Insulin-Glargin mehrere Fälle von Glaskörper- und Retinablutungen beobachtet worden sind,(10) wird zur Zeit in einer Studie geprüft, ob es unter Insulin-Glargin zu einer rascheren Progression diabetischer Retinopathien kommen kann.

Interaktionen

Insulin-Glargin ist mit denselben Interaktions-Risiken wie andere Insuline verbunden. Alle Medikamente, die den Glukosestoffwechsel beeinflussen, können eine reduzierte oder erhöhte Insulindosis bedingen. Beispiele sind Hormone, Betablocker, verschiedene Psychopharmaka, Sympatholytika, Alkohol u.a.

Dosierung/Verabreichung/Kosten

Insulin-Glargin (Lantus®) ist als Injektionslösung (100 E/ml) in 3-ml-Kartuschen zur Verwendung mit dem OptiPen® erhältlich. Die Dosierung erfolgt individuell aufgrund der Blutzuckerwerte und einer allfällig vorhergehenden Insulinbehandlung. Bei Personen, die vorher kein Insulin erhalten haben, wird eine Initialdosis von 10 E empfohlen. Gemäss der offiziellen Information soll das Präparat «abends» verabreicht werden. Das Präparat dient als einmal täglich verabreichtes Basisinsulin in der Behandlung des Diabetes mellitus (Typ-1 oder Typ-2); es darf nicht mit anderen Insulinen gemischt und auch nicht intravenös verabreicht werden. Insulin-Glargin ist bei Schwangeren nicht kontraindiziert, jedoch bisher nicht adäquat dokumentiert. Fünf Kartuschen zu 3 ml kosten CHF 117.05 (zur Zeit nicht kassenzulässig). Die gleiche Menge NPH-Insulin kostet nur wenig mehr als die Hälfte dieses Preises (Insuman® Basal: CHF 68.60).

Kommentar

Verspricht ein neues Insulin ein reduziertes Hypoglykämierisiko, so verdient es zweifellos unsere Aufmerksamkeit. Die kinetischen Daten zu Insulin-Glargin – der ungewöhnlich gleichmässige Spiegelverlauf – lassen annehmen, dass diese Substanz tatsächlich weniger Hypoglykämien verursachen sollte. Die entsprechenden klinischen Daten sind jedoch überraschend bescheiden. Bei Typ-1-Diabetes konnte ein diesbezüglicher Vorteil bisher fast nur in relativ kleinen Studien gezeigt werden. Etwas besser sieht es beim Typ-2- Diabetes aus. Dabei muss jedoch auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass in den Studien immer bekannt war, mit welchem Präparat die Behandlung erfolgte. Ein «Bias» zu Gunsten des neuen Insulins ist deshalb nicht ausgeschlossen. Im übrigen können Insulin-Glargin kaum nennenswerte Vorteile zugeschrieben werden. Über allfällige Langzeitwirkungen, z.B. im Zusammenhang mit der hohen Affinität zu IGF-1, ist noch nichts bekannt.

Wir haben es also mit einem Insulin zu tun, das bezüglich Hypoglykämiegefahr einen (zwar noch nicht ganz eindeutig definierten) Fortschritt darstellt, über dessen langfristige Auswirkungen wir jedoch noch im Unklaren sind. Eine zuverlässigere Beurteilung dürfte in einigen Jahren möglich sein, wenn weitere Studien durchgeführt und auch publiziert sind.

Standpunkte und Meinungen

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Insulin-Glargin (9. September 2003)
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pharma-kritik, 25/No. 9
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