Moclobemid

Synopsis

Moclobemid (Aurorix®) wird zur Behandlung depressiver Syndrome empfohlen.

Chemie/Pharmakologie

Moclobemid, ein Benzamidderivat, gehört zur Gruppe der MAO-Hemmer. Die Monoaminoxydase (MAO) ist in fast allen Zellen nachweisbar und existiert in verschiedenen Isoenzymen: man kennt eine A-Form, die beispielsweise den Adrenalin-, Noradrenalin- und Serotoninabbau katalysiert, sowie eine B-Form, deren Substrate andere biogene Amine sind. Während sich ältere MAO-Hemmer wie z.B. Isocarboxazid (Marplan®) irreversibel mit dem Enzym verbinden und nicht zwischen den beiden Isoenzymen unterscheiden, hemmt Moclobemid -- reversibel -- überwiegend die Monoaminoxydase-A. Nach einer Moclobemid- Dosis erreicht die Monoaminoxydase in 16 bis 20 Stunden wieder ihre ursprüngliche enzymatische Aktivität.
Der antidepressive Effekt von MAO-Hemmern beruht wahrscheinlich darauf, dass sie die Konzentration von Neurotransmittern (Noradrenalin, Serotonin u.a.) im Gehirn erhöhen. Die bisher vorhandenen MAO-Hemmer haben jedoch keine wichtige Rolle mehr gespielt, unter anderem weil sie viele Interaktionen und schwerwiegende Nebenwirkungen verursachen können. So ist bekannt, dass der Genuss tyraminreicher Nahrungsmittel (Käse u.a.) bei Patienten unter MAO-Hemmern hypertensive Krisen auslösen kann («Cheese effect»). Tyramin, ein indirektes Sympathomimetikum, wird unter normalen Verhältnissen von Monoaminoxydasen in Darm und Leber gespalten, bevor es in grossen Mengen den systemischen Kreislauf erreicht. Bei Moclobemid soll das Risiko solcher Reaktionen wegen der reversiblen Bindung an das Enzym praktisch eliminiert sein.

Pharmakokinetik

Moclobemid wird rasch resorbiert; maximale Plasmaspiegel finden sich nach etwa 1 Stunde.(1,2) Gleichzeitig eingenommenes Essen verzögert die Resorption nicht nennenswert. (3) Die biologische Verfügbarkeit hängt sowohl von der Dosis als auch von der Therapiedauer ab: Nach einer Einzeldosis von 50 mg Moclobemid liegt die biologische Verfügbarkeit zwischen 40 und 50%, nach 200 mg bei knapp 60%; unter einer längerfristigen Gabe kann sie sich auf rund 90% erhöhen. Dies weist darauf hin, dass die abbauenden Enzyme in der Leber eine Sättigungsgrenze aufweisen oder dass Moclobemid bzw. Metaboliten den eigenen Abbau hemmen. Moclobemid wird fast vollständig metabolisiert; im Urin lässt sich nur etwa 1% der unveränderten Substanz nachweisen. 19 Metaboliten sind identifiziert worden. Es gibt Hinweise, dass Metaboliten zur Wirkung von Moclobemid beitragen. Die Plasmahalbwertszeit liegt zwischen 1 und 2 Stunden. Vereinzelt fand man deutlich abweichende Werte von bis zu 5 Stunden; es handelt sich dabei wahrscheinlich um Personen, die -- genetisch determiniert, aber offenbar unabhängig vom Debrisoquin- Polymorphismus(4) -- Arzneimittel verlangsamt abbauen. Eine eingeschränkte Nierenfunktion beeinflusst die Kinetik von Moclobemid kaum, so dass keine Dosisanpassung nötig ist. (Möglicherweise wird aber die Halbwertszeit von Metaboliten verlängert.(5)) Moclobemid wird in der Muttermilch ausgeschieden; ein Säugling würde via Milch ungefähr 1% der mütterlichen Dosis (in mg/kg) erhalten.(6)

Klinische Studien

Bisher wurden schon über 2’000 Patienten mit Moclobemid behandelt. Etwa 800 Personen erhielten das Medikament in Doppelblindstudien, die dem Vergleich mit trizyklischen und tetrazyklischen Antidepressiva dienten. In allen Untersuchungen stufte man Schweregrad und Verlauf der Depression mit Hilfe der Hamilton-Skala und anderen Bewertungssystemen ein; bei Schlafstörungen waren Hypnotika (meistens Benzodiazepine) als begleitende Psychopharmaka zugelassen; Patienten, bei denen ein Suizidrisiko bestand, schloss das Studienprotokoll in der Regel aus.
In drei Doppelblindstudien -- alle stützten sich auf dasselbe Protokoll -- erhielten insgesamt 103 Patienten 6 Wochen lang Moclobemid (3mal 100 mg/Tag) oder Clomipramin (Anafranil®, 3mal 50 mg/Tag). Eine Untersuchung umfasste Patienten mit verschiedenen Depressionsformen; (7) bei den beiden anderen hatte man sich im einen Fall auf Patienten mit endogener, im anderen auf solche mit reaktiver Depression beschränkt.(8,9) Mit beiden Substanzen war der antidepressive Effekt etwa gleich gut. Je nach Studie trat die Wirkung im Verlauf von 1 bis 3 Wochen ein; Moclobemid und Clomipramin unterschieden sich in den einzelnen Untersuchungen auch in dieser Hinsicht nicht. Bei reaktiver Depression wirkten die beiden Mittel nicht signifikant besser als Placebo (das in jener Studie bei einer Kontrollgruppe von 13 zusätzlichen Patienten eingesetzt worden war).(9)
In einer doppelblinden Multizenterstudie, die sich ebenfalls über 6 Wochen erstreckte, bekamen 466 Patienten mit endogener oder reaktiver Depression sowie mit manisch- depressiver Krankheit entweder Moclobemid, Imipramin (Tofranil®) oder Placebo. Durchschnittliche Tagesdosen von 509 mg Moclobemid respektive 159 mg Imipramin bewirkten eine vergleichbare Zustandsverbesserung: bei rund 70% der Patienten wurde das Ergebnis als gut bis sehr gut taxiert. Beide Medikamente erwiesen sich gegenüber Placebo als signifikant überlegen.(10) Eine andere Multizenterstudie (359 Patienten) bestätigte, dass Moclobemid bei endogener wie bei nicht-endogener Depression ebenso wirksam ist wie Imipramin: Nach 4 Wochen hatten bei beiden Medikamenten knapp 60% der Patienten auf die Therapie angesprochen (Senkung der Gesamtpunktzahl in der Hamilton-Skala um mindestens 50%).(11)
In einem Sonderheft sind die Resultate mehrerer kleinerer Studien veröffentlicht, in denen Moclobemid neben Imipramin und Clomipramin auch mit Amitriptylin (z.B. Laroxyl®), Desipramin (Pertofran®), Maprotilin (Ludiomil®) und Mianserin (Tolvon®) verglichen wurde; alle kamen zu ähnlichen Ergebnissen wie die obenerwähnten Untersuchungen.(12)
Bei Patienten mit atypischer Depression wurde Moclobemid (im Mittel 420 mg/Tag) doppelblind mit Diazepam (z.B. Valium®, im Mittel 35 mg/Tag!) verglichen. (Unter «atypischer Depression» firmiert eine Depressionsform, die sich u.a. durch gesteigerten Appetit und erhöhtes Schlafbedürfnis kennzeichnet.) Nach 4 Wochen zeigte sich bei 14 Patientenpaaren in zwei von fünf Bewertungsskalen eine signifikant bessere Wirkung von Diazepam; nach 8 Wochen war keine Differenz mehr festzustellen. (13)
Ein kurze Zusammenfassung berichtet von mehr als 100 Patienten, die Moclobemid längerfristig, d.h. ein Jahr lang, eingenommen haben. Mit einer täglichen Dosis von 300 bis 340 mg konnte die antidepressive Wirkung aufrechterhalten werden.(14)

Unerwünschte Wirkungen

In Publikationen der Herstellerfirma sind die Nebenwirkungen zusammengefasst, die sich mit einer Häufigkeit in der Grössenordnung von 1 bis 10% manifestierten. Unter Moclobemid beobachtete man gastrointestinale und anticholinergische Symptome (Übelkeit, Mundtrockenheit u.a.), Agitiertheit, Schlaflosigkeit sowie Kopfschmerzen. Die Art der unerwünschten Wirkungen entspricht im grossen und ganzen denen trizyklischer Antidepressiva. Einige Nebenwirkungen -- Mundtrockenheit, Sedation, orthostatische Hypotonie, Zittern und Verstopfung -- traten aber bei Moclobemid signifikant weniger auf.
Es sind zwei Fälle einer Überdosierung beschrieben. Bei beiden Patientinnen hatte die Einnahme von etwa 1 bis 2 g Moclobemid zu starker Schläfrigkeit geführt. Im EKG liessen sich keine relevanten Veränderungen nachweisen. (15,16) Nach Angaben des Herstellers kann eine Intoxikation auch Verwirrtheit und Verhaltensstörungen hervorrufen.

Interaktionen

In mehreren Studien wurde geprüft, welche Folgen die gleichzeitige Gabe von Tyramin und Moclobemid hat. Es lässt sich daraus schliessen, dass die in einer Durchschnittsmahlzeit enthaltenen Tyraminmengen bei Patienten unter Moclobemid keine bedeutende Blutdruckerhöhung hervorrufen. Nach der Einnahme grösserer Tyraminmengen kann aber der systolische Blutdruck auch unter Moclobemid auf einen Wert ansteigen, der sich z.B. bei Patienten mit kardiovaskulären Krankheiten unter Umständen ungünstig auswirkt.(17,18)
Cimetidin
(Tagamet®) steigert die biologische Verfügbarkeit von Moclobemid beträchtlich (wahrscheinlich indem der hepatische Metabolismus gehemmt wird). Die Kombination von Moclobemid mit trizyklischen Antidepressiva, Benzodiazepinen, Digoxin, oralen Antikoagulantien, Kontrazeptiva, Antihypertensiva, Sympathomimetika und Alkohol zeitigte keine klinisch bedeutsamen Wechselwirkungen. (19)

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Moclobemid (Aurorix®) wird in Form teilbarer Tabletten zu 100 und 150 mg angeboten. Einstweilen sind nur die 150-mg-Tabletten kassenzulässig. Die tägliche Dosis bewegt sich zwischen 300 und 450 mg, in schweren Fällen kann sie auf 600 mg gesteigert werden. Da die biologische Verfügbarkeit mit der Therapiedauer zunimmt, soll man mindestens eine Woche verstreichen lassen, bis man die Dosierung ändert. Bei gestörter Leberfunktion muss die Dosis herabgesetzt werden. Eine spezielle Diät scheint unter Moclobemid nicht erforderlich; Patienten sollten aber instruiert werden, Moclobemid am Ende einer Mahlzeit einzunehmen und Nahrungsmittel, in denen viel Tyramin vorkommt -- reifen, intensiv riechenden Käse, Hefeextrakte --, zu meiden oder nur in kleinen Mengen zu konsumieren.
Die Anwendung bei schwangeren oder stillenden Frauen sowie bei Kindern ist noch nicht untersucht worden. Vermutlich kann Moclobemid gefahrlos mit trizyklischen Antidepressiva kombiniert werden; der etwaige Nutzen einer solchen Kombination ist aber nicht dokumentiert. Mit 300 mg/Tag kostet Moclobemid rund 90 Franken pro Monat und ist damit zwei- bis viermal teurer als andere Antidepressiva; bei Imipramin (Tofranil®) und Amitriptylin (z.B. Laroxyl®) ergibt eine Dosis von 75 mg/Tag einen Monatspreis um 20 Franken.

Kommentar

Gemäss den vorliegenden Daten ist Moclobemid bei allen Depressionstypen ungefähr gleich wirksam wie andere Antidepressiva. Einzelne Studien verdeutlichen aber, dass sowohl Moclobemid als auch Trizyklika bei nicht-endogenen Depressionen nicht unbedingt Therapie der Wahl sind. Ob sich im übrigen Moclobemid für einzelne Depressionsformen besonders eignet -- wie es den MAO-Hemmern zum Teil zugeschrieben wird --, ist noch nicht geklärt. Ein möglicher Vorteil von Moclobemid ist, dass es anscheinend besser vertragen wird und bei Überdosierung weniger gefährlich ist als trizyklische Antidepressiva; ein definitives Urteil ist aber erst erlaubt, wenn mehr Patienten mit Moclobemid behandelt worden sind.

Literatur

  1. 1) Wiesel FA et al. Eur J Clin Pharmacol 1985; 28: 89-95
  2. 2) Schoerlin MP et al. Clin Pharmacol Ther 1987; 42: 395-404
  3. 3) Schoerlin MP et al. J Neural Transm 1988; Suppl 26: 115-21
  4. 4) Schoerlin MP et al. Acta Psychiatr Scand 1990; Suppl 360: 98-100
  5. 5) Schoerlin MP et al. J Clin Pharmacol 1990; 30: 272-84
  6. 6) Pons G et al. Br J Clin Pharmacol 1990; 29: 27-31
  7. 7) Larsen JK et al. Acta Psychiatr Scand 1984; 70: 254-60
  8. 8) Koczkas C et al. Acta Psychiatr Scand 1989; 79: 523-9
  9. 9) Larsen JK et al. Acta Psychiatr Scand 1989; 79: 530-6
  10. 10) Versiani M et al. Br J Psychiatry 1989; 155 (Suppl 6): 72-7
  11. 11) Baumhackl U et al. Br J Psychiatry 1989; 155 (Suppl 6): 78-83
  12. 12) Verschiedene Autoren. Acta Psychiatr Scand 1990; Suppl 360: 43- 56 & 64-6
  13. 13) Tiller J et al. J Affective Disord 1989; 16: 181-7
  14. 14) Stefanis CN, Merz-Frei K. Acta Psychiatr Scand 1990; Suppl 360: 67-8
  15. 15) Heinze G, Sanchez A. J Clin Psychiatry 1986; 47: 438
  16. 16) Vine R et al. Int Clin Psychopharmacol 1988; 3: 325-6
  17. 17) Verschiedene Autoren. J Neural Transm 1988; Suppl 26: 31-71 & 97-114
  18. 18) Burgess CD, Mellsop GW. Fundam Clin Pharmacol 1989; 3: 47-52
  19. 19) Zimmer R et al. Acta Psychiatr Scand 1990; Suppl 360: 84-6

Standpunkte und Meinungen

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Moclobemid (28. August 1990)
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