Tamsulosin

Synopsis

Tamsulosin (Omix®, Pradif® retard) ist ein neuer Alphablocker, der zur Behandlung der benignen Prostatahyperplasie empfohlen wird.

Chemie/Pharmakologie

Der Harnblasenhals sowie die Kapsel und das Stroma der Prostata sind mit glatter Muskulatur versehen, deren Tonus durch das autonome Nervensystem über Rezeptoren gesteuert wird. Der Tonus dieser glatten Muskulatur gilt als wichtiger Faktor, der bei der benignen Prostatahyperplasie zur Obstruktion und zu irritativen Beschwerden wie Dranginkontinenz oder Schmerzen beim Wasserlösen beiträgt.

Tamsulosin und andere Alphablocker wie Prazosin (Minipress® ), Terazosin (Hytrin® BPH) oder Alfuzosin (Xatral®) senken den Tonus der glatten Muskulatur und lindern damit die Symptome der benignen Prostatahyperplasie.(1)
Die a1 -Rezeptoren lassen sich in a1A -, a1B - und a1D -Rezeptoren unterteilen. Während die bisher verfügbaren Alphablocker die verschiedenen a1 -Rezeptoren ungefähr gleichermassen blockieren, bindet sich Tamsulosin bevorzugt an a1A -Rezeptoren. Es scheint, dass a1A -Rezeptoren in der Prostata der häufigste a1 -Rezeptortyp sind, in den Gefässen dagegen kaum eine Rolle spielen. Deshalb wird angenommen, dass Tamsulosin im Gegensatz zu anderen Alphablockern keine nennenswerten Wirkungen auf das Herz-Kreislauf-System hat.(lit)

Pharmakokinetik

In der Schweiz ist Tamsulosin ausschliesslich als Retardpräparat erhältlich. Mit dieser Form wurden auch die wichtigsten Studien durchgeführt. Maximale Plasmaspiegel werden 4 bis 8 Stunden nach Einnahme einer Retardkapsel erreicht. Die biologische Verfügbarkeit beträgt praktisch 100%; sie wird durch gleichzeitig eingenommene Nahrung um bis zu 30% herabgesetzt. Tamsulosin wird im Plasma zu 99% an Eiweisse - hauptsächlich an das saure a1-Glykoprotein - gebunden. Rund 90% von Tamsulosin wird in der Leber über das Zytochrom-P450-System abgebaut, wobei die CYP3A4- und in geringerem Mass die CYP2D6-Isoform beteiligt sind.(3)

Es sind fünf Metaboliten bekannt, die pharmakologisch aktiv, im Plasma indessen nur in geringer Konzentration vorhanden sind. Tamsulosin wird vorwiegend in Form von Metaboliten über die Nieren ausgeschieden; im Urin finden sich knapp 10% als unveränderte Substanz.(4,5) Die Plasmahalbwertszeit variiert beträchtlich; bei älteren Männern, der Patientengruppe, bei der Tamsulosin therapeutisch eingesetzt wird, fand sich mit 13 Stunden der höchste Wert.(2) Bei einer Nierenfunktionsstörung kann sich die Halbwertszeit verlängern. Dies dürfte darauf beruhen, dass die Konzentration des sauren a1-Glykoproteins zunimmt und mehr Tamsulosin gebunden wird.(lit)

Klinische Studien

Bislang hat man mit Tamsulosin bei mehr als 20'000 Patienten dokumentierte klinische Erfahrungen gesammelt. Es handelt sich allerdings in erster Linie um Männer, die Tamsulosin im Rahmen von unkontrollierten Beobachtungsstudien erhalten haben.(7) Die publizierten Doppelblindstudien umfassen ungefähr 1'500 Männer mit benigner Prostatahyperplasie, denen Tamsulosin verabreicht worden ist.

In den Studien wurden urodynamische Parameter (maximale Harnflussmenge u.a.) und zum Teil das Restharnvolumen bestimmt; mit Hilfe von Skalen (Boyarsky-Skala oder Skala der «American Urological Association») fragte man ferner systematisch nach Symptomen wie beispielsweise Miktionsfrequenz, Nachträufeln, Harnstrahlstärke, Harndrang oder Nykturie.

In einer doppelblinden Dosisfindungsstudie bei 115 Patienten wirkten alle drei untersuchten Tamsulosin-Dosen (0,2, 0,4 und 0,6 mg/Tag) besser als Placebo. Signifikante Unterschiede fand man nur mit 0,4 und 0,6 mg/Tag, wobei die Dosis von 0,4 mg/Tag gesamthaft zum besten Ergebnis führte.(8)

In zwei Multizenterstudien wurde Tamsulosin doppelblind mit Placebo verglichen: In der ersten Studie, die 12 Wochen dauerte und in 52 urologischen Abteilungen und Praxen in Europa durchgeführt wurde, erhielten 357 Patienten Tamsulosin (0,4 mg/Tag) und 178 Patienten Placebo.(9) Resultate von ungefähr der Hälfte der Patienten sind auch in einer anderen Publikation in vollem Umfang zusammengestellt.(10) Die zweite Studie fand in den USA statt; 618 Patienten wurden in drei Gruppen unterteilt und erhielten während 13 Wochen täglich entweder 0,4 oder 0,8 mg Tamsulosin bzw. Placebo. In der Gruppe mit der höheren Tamsulosin-Dosis verordnete man für eine Woche eine Dosis von 0,4 mg/Tag; für die restlichen 12 Wochen wurde auf 0,8 mg/Tag verdoppelt.(11)
In beiden Studien konnte bei allen Patienten im Durchschnitt eine Zunahme der maximalen Harnflussrate und eine Linderung der Beschwerden nachgewiesen werden. Verglichen mit Placebo zeigte Tamsulosin jedoch eine bessere Wirkung; ausser beim Restharnvolumen, das nur in der ersten Studie evaluiert wurde, waren die Unterschiede signifikant. Bei den beiden Tamsulosin-Dosen in der zweiten Studie fand man keine nennenswerte Differenz.

Wie separat berichtet wird, standen in der amerikanischen Studie 400 Patienten für eine 40 Wochen dauernde Anschlussstudie zur Verfügung, in der das ursprüngliche Protokoll (doppelblinde Gruppenzuteilung usw.) weiterhin galt. Man stellte fest, dass die Wirkung von Tamsulosin - auch hinsichtlich der Unterschiede gegenüber Placebo - erhalten blieb.(12)

Bei 233 Patienten wurde Tamsulosin 12 Wochen lang doppelblind mit Alfuzosin verglichen. Die Tamsulosin-Dosis betrug 0,4 mg/Tag. In der Alfuzosin-Gruppe begann man mit einer Dosis von 2mal 2,5 mg/Tag; nach 2 Wochen wurde auf 3mal 2,5 mg/Tag gesteigert. Zwischen den beiden Medikamenten ergab sich kein Unterschied. Mit Tamsulosin stieg die maximale Harnflussrate im Mittel von 10,0 auf 11,6 ml/s, mit Alfuzosin von 9,9 auf 11,5 ml/s. Auf der Boyarsky-Skala, die von 0 bis 27 Punkten reicht, fiel die durchschnittliche Punktezahl mit Tamsulosin von 10,3 auf 6,2, mit Alfuzosin von 9,8 auf 6,0. In beiden Gruppen konnte bei rund einem Drittel der Patienten eine relevante Verbesserung der maximalen Harnflussrate erzielt werden (definiert als Zunahme um mindestens 3 ml/s bzw. 30%); bei rund zwei Dritteln führte die Behandlung zu einer relevanten Besserung der Beschwerden (definiert als Abnahme der Symptomenpunkte um mindestens 25%).(lit)

Unerwünschte Wirkungen

In den Studien sind unter der Therapie mit Tamsulosin Schwindel, Kopfschmerzen, Schwächegefühl, Müdigkeit, Tachykardien, verstopfte Nase, orthostatische Hypotonie, Synkopen und retrograde Ejakulation vorgekommen. Verglichen mit Placebo traten nur retrograde Ejakulationen signifikant häufiger auf.

Als Retardpräparat verabreicht, hat Tamsulosin im allgemeinen keine wesentliche blutdrucksenkende Wirkung. Ob das klinisch bedeutsam ist, bleibt offen: Alfuzosin zum Beispiel senkt die Blutdruckwerte zwar stärker als Tamsulosin, was aber offenbar nicht mit einer höheren Rate manifester kardiovaskulärer Nebenwirkungen verbunden ist.(lit)

Interaktionen

Die einzige wichtige Interaktion, die bisher nachgewiesen ist, betrifft Cimetidin (Tagamet® u.a.), das einen Anstieg der Tamsulosin-Plasmaspiegel um etwa 36% bewirkt hat. Theoretisch ist damit zu rechnen, dass insbesondere auch andere CYP3A4-Hemmer wie zum Beispiel Makrolid-Antibiotika oder Imidazol-Antimykotika die Tamsulosin-Konzentrationen erhöhen können.


Dosierung, Verabreichung, Kosten

Tamsulosin (Omix®, Pradif® retard) wird als Retardtablette zu 0,4 mg angeboten und ist kassenzulässig. Omix® ist entgegen den Angaben im Schweizer Arzneimittel-Kompendium momentan noch nicht erhältlich, da sich die Einführung verzögert. Die empfohlene Dosis ist 1mal 0,4 mg/Tag. Anders als bei anderen Alphablockern muss die Behandlung nicht mit einer niedrigen Anfangsdosis eingeleitet werden. Laut Herstellerfirmen soll Tamsulosin nach dem Essen eingenommen werden. Die Tabletten enthalten einen Farbstoff (Indigotin, E 132), bei dem Überempfindlichkeitsreaktionen beschrieben sind. Bei schwerer Leber- oder Niereninsuffizienz wird zu einer Dosisreduktion geraten.

Der Preis von Tamsulosin beträgt 57.70 Franken pro Monat. Prazosin in Retardform (Minipress® retard, 2mal 2 mg/Tag) kostet 31.20 Franken pro Monat, Terazosin (Hytrin® BPH, 1mal 10 mg/Tag) 84.90 Franken, Alfuzosin in Retardform (Xatral® SR, 2mal 5 mg/Tag) 58.40 Franken.

Kommentar

Mit Tamsulosin steht ein neuer Alphablocker zur Verfügung, der bei der Behandlung der benignen Prostatahyperplasie wahrscheinlich gleich gut wirksam ist wie die anderen Vertreter dieser Substanzgruppe. Unter den neueren Alphablockern zeichnet sich Tamsulosin als preisgünstigste Variante aus.

Inwieweit die hohe Affinität für a1A -Rezeptoren in bezug auf kardiovaskuläre Nebenwirkungen von Belang ist, sei in den Raum gestellt. Obwohl Alfuzosin von den a1 -Rezeptoren-Blockern die geringste Selektivität für a1A -Rezeptoren besitzt, scheint es nicht mehr Nebenwirkungen zu verursachen als Tamsulosin. Dass Tamsulosin wenig Einfluss auf den Blutdruck zeigt, lässt sich durchaus auch pharmakokinetisch erklären. Tamsulosin wird nämlich trotz einer ordentlich langen Halbwertszeit lediglich als Retardpräparat angeboten. Es ist zu vermuten, dass damit hohe Spitzenkonzentrationen vermieden werden sollen, die Hypotonien auslösen könnten - wie es bei nicht-retardiertem Tamsulosin beobachtet wurde.(3)
Dieselbe Absicht dürfte hinter der Empfehlung stehen, dass das Mittel nach dem Essen einzunehmen sei (womit bewusst ein gewisser Verlust an biologischer Verfügbarkeit in Kauf genommen wird).

Literatur

  1. 1) Kappeler T. pharma-kritik 1995; 17: 5-8
  2. 2) Wilde MI, McTavish D. Drugs 1996; 52: 883-98
  3. 3) Matsushima H et al. Drug Metab Dispos 1998; 26: 240-5
  4. 4) Taguchi K et al. J Pharmacol Exp Ther 1997; 280: 1-5
  5. 5) Soeishi Y et al. Xenobiotica 1996; 26: 637-45
  6. 6) Koiso K et al. J Clin Pharmacol 1996; 36: 1029-38
  7. 7) Michel MC et al. J Urol 1998; 160: 784-91
  8. 8) Abrams P et al. Br J Urol 1997; 80: 587-96
  9. 9) Chapple CR et al. Eur Urol 1996; 29: 155-67
  10. 10) Abrams P et al. Br J Urol 1995; 76: 325-36
  11. 11) Lepor H. Urology 1998; 51: 892-900
  12. 12) Lepor H. Urology 1998; 51: 901-6
  13. 13) Buzelin JM et al. Br J Urol 1997; 80: 597-605

Standpunkte und Meinungen

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Tamsulosin (18. Dezember 1998)
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pharma-kritik, 20/No. 03
PK359
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