Hat uns Dr. Weil etwas zu sagen?

ceterum censeo

Schon seit rund zwei Jahren erhalte ich jede Woche Post von Dr. Weil, elektronische Post zwar, aber lesenswerte Post auf jeden Fall.(1)
Dr. Weil ist in der Schweiz nicht vielen bekannt. Er ist meines Wissens der wichtigste Exponent einer Medizin, die sich als «integrativ» bezeichnet. Obwohl er von Kalifornien aus für Nordamerikaner schreibt (und auch auf dem ganzen Kontinent Vorträge hält), könnten viele seiner «Rezepte» auch in Europa erfolgreich angewandt werden. Ich möchte im folgenden auf einige Weil'sche Maximen eingehen und Unterschiede zur sogenannten Komplementärmedizin in Europa aufzeigen.

In den letzten Jahren hat ja die Bedeutung nicht-konventioneller medizinischer Verfahren weltweit zugenommen. Dabei ist es nicht so, dass die wissenschaftlich fundierte Medizin weniger in Anspruch genommen würde, im Gegenteil. Viele Leute empfinden jedoch ein gewisses Malaise gegenüber der pharmazeutisch («chemisch») dominierten Medizin und lassen sich bei geringfügigen Gesundheitsproblemen gerne mit Methoden behandeln, die sie als natürlicher einschätzen. Dass sich diese Methoden selten auf wissenschaftliche Evidenz stützen können, ist solange belanglos, als dabei nicht wirklich bedeutsame Massnahmen verpasst werden. Oft scheint es, dass sich die Kluft zwischen komplementärer und konventioneller Medizin kaum überbrücken liesse. Es genügt zum Beispiel nachzulesen, in welcher Weise ich vor ein paar Jahren von Exponentinnen und Exponenten der Komplementärmedizin attackiert wurde, als ich wagte, gewisse Zweifel anzumelden.(2)

Die «integrative» Medizin versucht dagegen, Elemente aus beiden medizinischen Lagern zusammenzufassen. So ist es offensichtlich Weils wichtigstes Anliegen, Präventivmedizin mit möglichst natürlichen Mitteln durchzuführen. Sein Buch «Eight weeks to optimum health» ist in den USA nicht vergebens ein Bestseller.(3) In diesem Buch beschreibt Weil in erster Linie relativ einfache Massnahmen, die nach seiner Auffassung Wohlbefinden und Lebenserwartung verbessern sollen. Wir sind vielleicht der Meinung, Amerikaner lebten weniger gesund als wir Europäer und hätten daher diese Art von Instruktion nötiger als wir. Anhand einiger Beispiele lässt sich jedoch erkennen, dass die Weil'schen Ermahnungen auch bei uns durchaus Berechtigung haben. Dass sich im übrigen Weil in der Rolle eines alternativmedizinischen Gurus gefällt, mag bei uns Opposition wecken, trägt aber in den USA wahrscheinlich zu seinem Erfolg bei.

Das Kapitel, mit dem er sein 8-Wochen-Büchlein beginnt, ist mit seiner wohl wichtigsten Maxime überschrieben: «People can change». Genau das ist es ja, was die Präventivmedizin eigentlich erreichen möchte. Nur wenn es gelingt, dass Leute gesundheitsschädigende Gewohnheiten aufgeben und sich angewöhnen, sich so zu verhalten, dass ihre natürlichen Reserven erhalten bleiben, ist Präventivmedizin erfolgreich. Was Weil seinen Leserinnen und Lesern in «acht Wochen zu optimaler Gesundheit» an Änderungen vorschlägt, ist bemerkenswert anspruchsvoll, vielfältig - und weitgehend mit den Erkenntnissen der «gewöhnlichen» Schulmedizin übereinstimmend. So fordert er unter anderem Nichtrauchen (selbstverständlich), eine bessere Trinkwasserqualität, regelmässige körperliche Aktivität, Schutz vor übermässiger Sonnenbestrahlung, genügend Zeit zur Entspannung und zur Freude am Leben. Im weiteren geht er auf eine Reihe von aktuellen «gesundheitlichen» Einzelfragen ein.

Das Schwergewicht seiner Empfehlungen liegt aber meines Erachtens im Bereich der Ernährung. Vielleicht hätte «unser» Dr. Bircher, wenn er in der heutigen Zeit lebte, ähnliche Ratschläge formuliert. Die meisten Schweizerinnen und Schweizer müssten aber ihre Ernährung massiv reformieren, wenn sie sich an Dr. Weils Rezepte halten wollten. So rät er gänzlich davon ab, Fleisch (mit Ausnahme von Fisch) zu essen. Auch Milchprodukte kommen - zweifellos mit Rücksicht auf ihren Cholesteringehalt - nicht gut weg. Allerdings schreibt er, es sei auf alle Fälle besser, mit dem Brot eine kleine Menge Butter zu essen als das völlig unnatürliche, chemisch manipulierte Produkt namens Margarine zu sich zu nehmen. In seiner Empfehlung, viel Gemüse und viele Früchte zu essen, stimmt er einmal mehr durchaus mit den heutigen Erkenntnissen der wissenschaftlich orientierten Medizin überein. Man darf sich nicht daran stören, dass er offenbar eine Art Broccoli-Tic hat und selbst gar nicht genug von diesem Gemüse bekommen kann. Daneben empfiehlt er noch eine Vielzahl von weiteren Gemüsen (notabene: wenn immer möglich Biogemüse!), zu denen oft auch attraktive Kochrezepte angegeben werden. Dies ist vielleicht eine der über-zeugendsten Qualitäten des 8-Wochen-Büchleins: es wird nicht einfach doziert, sondern man gewinnt den Eindruck, es stecke jemand hinter dem Text, der sich z.B. an gutem Essen richtig freuen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass dies ein Element darstellt, das dazu beiträgt, dass viele mindestens einmal den Versuch machen, «gesünder» zu essen. Was im Buch kaum zum Ausdruck kommt, aber in den Internet-Briefen sehr oft durchschimmert: es handelt sich bei Dr. Weil um einen Menschen, der zwar von seinen Konzepten überzeugt ist, aber auch einmal fünfe gerade lassen kann. So schrieb er einmal, er halte es keineswegs für dramatisch, wenn man ausnahmsweise einmal seine Ernährungsregeln nicht einhalte, er tue dies auch nicht immer.

Sehr viele Elemente der Weil'schen Ernährung basieren auf Untersuchungen, die uns zwar keine «harten» Evidenzdaten liefern, aber denen doch eine hohe Aussagekraft zukommt. So gibt es ja tatsächlich gute Indizien, dass eine überwiegend vegetarische Ernährung lebensverlängernd wirkt. Auch für andere Diätbestandteile wie Fisch, Sojaprodukte, grünen Tee usw. gibt es allmählich überzeugende Argumente. Dass unsere Ernährungsweise bedeutsame gesundheitliche Konsequenzen hat, ist heute wohl unbestritten. Die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und von vielen Krebsformen ist mit grösster Wahrscheinlichkeit von Nahrungsfaktoren beeinflusst.(4,5) In der Medizin, die wir praktizieren, sprechen wir zwar mit einzelnen Kranken über spezifische Diäten, jedoch kaum je allgemein von der Ernährung. Dr. Weil tut es, mit Überzeugung und ausführlicher Genauigkeit.

Instruktionen für das körperliche Training beanspruchen im Buch weniger Platz als die Kochrezepte. Das liegt nicht daran, dass sie weniger wichtig wären, sondern hat damit zu tun, dass sie eben sehr einfach sind. Da wird kein anspruchsvoller Sport propagiert; Fitnesszentren sind nicht nutzlos, aber auch nicht notwendig. Zwei Prinzipien werden propagiert, die bei jeder möglichen Gelegenheit in die Tat umgesetzt werden sollen: Stretching und Walking. So schlägt Weil vor, in jeder der acht Wochen etwas länger zu gehen und daraus eine ständige Gewohnheit zu machen. Er hat zweifellos recht, wenn er gewöhnliches Gehen als ideale Aktivitätsform bis in hohe Alter propagiert. An diesen Empfehlungen ist - ähnlich wie bei vielen seiner Ernährungsregeln - bemerkenswert, dass sie sich praktisch ohne zusätzliche Kosten realisieren lassen und auch kein spezielles Können erfordern.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Weil auch der Atmung. Er empfiehlt, täglich einfache Atemübungen durchzuführen, z.B. während fünf Minuten Ein- und Ausatmung bewusst zu beobachten. Für Weil eröffnen solche Übungen den Zugang zu körpereigenen Kräften, die für die Gesundheit bedeutsam sein sollen. Lobenswert sind auch die Weil'schen Aussagen zu den Möglichkeiten, den Schlaf zu verbessern. Auch hier geht es nicht um komplizierte Anweisungen. Vielmehr handelt es sich um durchaus sinnvolle Ratschläge, wie Lärmeinflüsse, pharmakologische Einwirkungen usw. ausgeschaltet werden könnten. «Wenn Ihnen meine Empfehlungen, sich an Blumen, Gärten, Musik und Kunst zu freuen, Schwierigkeiten machen, so kann ich Ihnen nicht helfen. Je mehr Sie diese Einflüsse auf Ihr Leben einwirken lassen, desto glücklicher und gesünder werden Sie sein.» Diese typisch Weil'sche, schon etwas missionarisch anmutende Aussage illustriert seine Bemühung, Menschen als Ganzes zu verstehen. Wiederholt empfiehlt er auch, einmal für einen Tag auf die «News» zu verzichten. Die kontinuierliche Berieselung mit immer wieder neuen, in vielen Fällen für das Individuum weitgehend irrelevanten Meldungen sei nämlich geeignet, das psychische Gleichgewicht empfindlich zu stören. (Das hielt ihn anderseits keineswegs davon ab, in einem der neueren Briefe ausdrücklich auf das unermessliche Unglück der vom Wirbelsturm Mitch betroffenen Menschen in Honduras und Nicaragua und auf die Notwendigkeit von Hilfeleistung hinzuweisen.)

Im Gegensatz zu vielen Vertreterinnen und Vertretern der Komplementärmedizin in Europa erhebt aber Weil nicht zu Unrecht den Anspruch, eine Integration anzustreben. Bei ihm geht es nicht darum, eine bestimmte Methode - Akupunktur, Homöopathie oder was auch immer - als die Methode darzustellen. Er bemüht sich vielmehr, Türen für die verschiedensten Einflüsse zu öffnen und wirkt dabei in den seltensten Fällen apodiktisch.

Am wenigsten überzeugend ist Weil, wenn er Empfehlungen zu Supplementen (Vitamin C und E, Beta-Carotin, Selen) macht. Zwar trifft es zu, dass man heute eine vorteilhafte Wirkung z.B. hoher Dosen bestimmter Vitamine vermuten kann. Nachgewiesen ist diese Wirkung jedoch noch nicht überzeugend. So würde ich von einem kritisch denkenden Dr. Weil erwarten, dass er dies auch zum Ausdruck bringt, wenn er sagt, er selbst nehme diese Supplemente und empfehle sie auch anderen. Auch was er zu «Tonika» wie Ginseng, Astragalus, Cordyceps u.ä. sagt, geht deutlich über das hinaus, was sich heute vernünftigerweise vertreten lässt. Immerhin merkt er an, die Einnahme von Supplementen dispensiere keineswegs davon, regelmässig viel Früchte und Gemüse zu essen. Ein Minimum an Vorbehalten bringt er auch zu den Tonika an. Ein Beispiel: «Of course, serious clinical trials need to be conducted, but in the meantime, ashwagandha is nontoxic, affordable, and available for use». So dürfte man nicht schreiben, wenn man ganz glaubwürdig bleiben will. Besser ist es aber immer noch, als was uns von der Pharmaindustrie im Kontext mit Tonika vorgelegt wird. So bestehen doch auch erhebliche Zweifel, ob z.B. Dynamisan® forte tatsächlich «Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden, Gedächtnis und Merkfähigkeit» verbessert.

Das 8-Wochen-Programm ist also nicht in jeder Hinsicht optimal, enthält aber so viele gute Anregungen, dass die wenigen Schwächen nicht ins Gewicht fallen. Es zeigt, wie sich aus den Wurzeln von alternativer Medizin und wissenschaftlich fundierter Präventivmedizin ein ansprechendes Ganzes bilden lässt, das eigentlich auch für Europa vorbildlich sein könnte.

Literatur

  1. 1) http://cgi.pathfinder.com/drweil/bulletin/
  2. 2) pharma-kritik 1992; 14: 25-32
  3. 3) Weil A. Eight Weeks to Optimum Health. 1997; New York: Ballantine Publishing Group
  4. 4) De Lorgeril M et al. J Am Coll Cardiol 1996; 28: 1103-8
  5. 5) World Cancer Research Fund. Food, Nutrition and the Prevention of Cancer: a Global Perspective. 1997; Washington: American Institute of Cancer Research

Standpunkte und Meinungen

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Hat uns Dr. Weil etwas zu sagen? (17. November 1998)
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