Pharmakotherapie im Spital nicht optimal

ceterum censeo

Eine 90jährige Patientin, der erfolgreich eine Hüft-Totalprothese eingesetzt wurde, wird noch während 8 Wochen mit oralen Antikoagulantien behandelt. Kurz vor dem Austritt aus dem Spital erkrankt sie an einer Zystitis und erhält deswegen am letzten Spitaltag erstmals Cotrimoxazol (z.B. Bactrim®). Dieses Medikament wird beim Austritt weiter verschrieben; an eine rasche Kontrolle der Blutgerinnung denkt niemand. In einem besonders heiklen Augenblick, dem Wechsel vom Spital ins häusliche Milieu (oder allenfalls in die Erholungskur) wird diese betagte Frau einem "klassischen" Interaktionsrisiko mit schlimmstenfalls deletären Folgen ausgesetzt. Das beschriebene Szenario ist erstens tatsächlich so abgelaufen und zweitens keineswegs eine Ausnahme, sondern entspricht der Alltagsrealität (auch) in den Schweizer Spitälern.

Das besondere Risiko von Interaktionen bei der Spitalaustrittsverordnung ist beispielhaft bei 100 Personen, die aus der Medizinischen Klinik des Kantonsspitals Chur entlassen wurden, genauer untersucht worden: in rund 50% wurden Medikamente verschrieben, die zu Arzneimittel-Interaktionen führen können und in 5% bestand das Risiko einer gefährlichen Interaktion.(1)
Dass die Situation an anderen Spitälern besser wäre, ist nicht anzunehmen.

Fehler passieren jedoch keineswegs nur an der problematischen Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Medizin. Eine andere Untersuchung an Schweizer Spitälern hat gezeigt, dass es bei 41% aller Spitalaufenthalte zu unerwünschten Ereignissen kommt, die möglicherweise medikamentös bedingt sind. In 11% treten klinisch relevante unerwünschte Wirkungen auf; fast 9% aller Spitaltage beruhen auf einer Verlängerung des Spitalaufenthaltes wegen Arzneimittel-Nebenwirkungen.(2)

Zahlen dieser Art beeindrucken uns vielleicht nicht sehr - gerne denkt man, es handle sich ja meistens um Probleme, die vorübergehender Natur sind. Wenn ich aber zum Beispiel sehe, dass einer meiner Patienten nach einem Herzinfarkt wahrscheinlich nur deshalb gestorben ist, weil er im Spital primär ein Antiarrhythmikum der zweiten Wahl (mit hohem arrhythmogenem Potential) erhielt, wird die Sache todernst. In der erwähnten Arbeit(2) fand sich denn auch eine wahrscheinlich medikamentös bedingte Todesrate von 1,4% - meines Erachtens viel zu hoch.

Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir den Respekt vor der in den Spitälern praktizierten Pharmakotherapie ablegen und genauer hinterfragen, wie unsere Patientinnen und Patienten im Spital behandelt werden.

Gewiss: es ist mir bewusst, dass Kranke im Spital in der Regel "kränker" sind als die Patientinnen und Patienten, die ich in der Sprechstunde sehe. Besonders in kritischen Situationen, auf Intensivstationen, muss zum Teil rasch eine Vielzahl von Medikamenten eingesetzt werden, da es ja oft um lebensrettende Massnahmen geht. Dass dabei Fehler auftreten können, liegt in der Natur der Notfallsituation und lässt sich wohl auch bei sorgfältiger Anwendung nicht ganz vermeiden.

Nicht akzeptabel ist jedoch, dass in der klinischen Routine grobe Fehler - wie z.B. die erwähnte Interaktion zwischen oralen Antikoagulantien und Cotrimoxazol - nicht erkannt und korrigiert werden. Der Vorwurf geht nicht an die jungen Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht über die notwendige Erfahrung verfügen. Die Arzneimitteltherapie ist aber heute so vielfältig und so differenziert geworden, dass sie in der Phase der Ausbildung mehr denn je besonderer Aufmerksamkeit seitens der verantwortlichen Vorgesetzten bedarf.

Gerade die Bedeutung der Interaktionen wird wohl immer noch unterschätzt. Die Industrie ist sich der Interaktionsproblematik sehr wohl bewusst, waren es doch nicht zuletzt gefährliche Interaktionen, die vor drei Jahren Mibefradil (Posicor®) und jetzt ganz neu Cerivastatin (Lipobay® u.a.) zu Fall gebracht haben. In der Klinik, wo heute nach meiner Erfahrung oft mit dem Interaktionsfeuer gespielt wird, ist dieses Bewusstsein noch nicht genügend präsent.

Wir dürfen mit gutem Grund erwarten, dass im Spital eine erstklassige Therapie sichergestellt wird. Dazu gehört aber auch, dass keine unnötigen Therapien verordnet werden. Allzu vieles ist nicht-reflektierte Routine - "obligate" Verordnung von Schmerz- oder Schlafmitteln, die nicht notwendig sind, Zusatzmedikation von Protonenpumpenhemmern zu nicht-steroidalen Entzündungshemmern, wenn ebenso gut weniger riskante Schmerzmittel verordnet werden könnten, und vieles andere mehr. Nicht selten werden im Spital gerade auch alten Leuten Medikamente verschrieben, für die gar keine überzeugende Wirksamkeit nachgewiesen ist, beispielsweise gegen Schwindel.

Für die ambulante Praxis ist problematisch, dass im Spital praktisch keine Generika verschrieben werden (und entsprechend auch auf der Austrittsverordnung immer nur Originalpräparate erscheinen). Es ist mir zwar klar, dass dies in der Regel einfache wirtschaftliche Gründe hat - die Spitäler erhalten Originalpräparate oft zu stark reduzierten Preisen und haben deshalb kein Interesse, sich um Präparate zu kümmern, die auch langfristig (in der ambulanten Medizin) kostensparend sind. Dabei kommt es auch immer wieder vor, dass aus einer Arzneimittelgruppe ein Originalpräparat verschrieben wird, dessen Nutzen weit weniger gut dokumentiert ist als derjenige der (auch als Generikum erhältlichen) Alternative. Beispiele für diese Art von Therapie sind sehr zahlreich - aus den Gruppen der ACE-Hemmer, Betablocker, Chinolone, Diuretika und noch vielen anderen wird oft die neuere, teurere und noch weniger untersuchte Substanz verschrieben. Leider ist es ja so, dass Spitalärztinnen und -ärzte häufig keine klaren Vorstellungen von den Kosten der von ihnen verschriebenen Medikamente haben.(3) Dagegen dürfte man erwarten, dass sich die Spitalmedizin mindestens auf eine überzeugende Evidenzbasis stützt.

Was liesse sich tun, um das Arzneimittelrisiko im Spital zu reduzieren? Ich bin überzeugt, dass substantielle Verbesserungen nur möglich sind, wenn man sich in allen Spitälern bewusst darum bemüht. Mein Fünfpunkteprogramm lautet folgendermassen:

- Ausbildung intensivieren: Jedes Spital sollte über ein strukturiertes Programm verfügen, das jungen Kolleginnen und Kollegen ermöglicht, ihre Pharmakotherapiekenntnisse aktiv und industrieunabhängig zu erweitern. Dazu eignen sich zum Beispiel regelmässige interne Seminare zu umschriebenen Themen, die von den Assistenzärztinnen und -ärzten vorbereitet und von den Erfahreneren geleitet werden. Dass eine konsequente Ausbildung später auch der Therapie in der Praxis zugute käme, ist unzweifelhaft.

- Standard-Arzneimittelsortiment einschränken: Das Verzeichnis der Arzneimittel, die üblicherweise in einem Spital verschrieben werden, muss kontinuierlich neu beurteilt und nach den Prinzipien einer Evidenz-basierten Medizin rigoros eingeschränkt werden. Zudem sollte die Auswahl unter Mitarbeit der regionalen Ärzteschaft so getroffen werden, dass beim Austritt eine nahtlose Weiterführung der Therapie gewährleistet ist. (Dies bedeutet nicht, dass im Einzelfall nicht auch andere Medikamente verschrieben werden können, nur muss es dann speziell begründet werden.)

- Besser überwachen: Was von den jüngeren Kolleginnen und Kollegen verschrieben wird, muss von den älteren konsequenter überprüft werden. Das genügt aber nicht: Alle Todesfälle sollten einer spitalinternen Kommission vorgelegt werden, damit allfällige Zusammenhänge mit der Pharmakotherapie erfasst werden können. Noch besser wäre zweifellos eine "externe" Peer Review. So könnten zum Beispiel Praktikerinnen und Praktiker aus der Spitalregion bestimmt werden, die von Zeit zu Zeit stichprobenartig einzelne Spitalverläufe genauer ansehen.

- Hilfsmittel verwenden: Es gibt mehr als das Kompendium! Über das Internet sind zahlreiche zusätzliche Informationsquellen zur Pharmakotherapie verfügbar.(4) Ein Zugang zum Internet sollte daher auf allen Spitalabteilungen vorhanden sein. Für Entscheide, die am Krankenbett getroffen werden müssen, können Programme für die kleinsten Computer (d.h. für "Palm" und ähnliche Systeme) nützlich sein. Der amerikanische Medical Letter offeriert z.B. zum Preis von knapp $54 ein sehr brauchbares Interaktions-Modul für den Palm.(5)

- Fachleute beiziehen: An allen medizinischen Fakultäten der Schweiz gibt es erstklassige Institute für klinische Pharmakologie. Die Fachleute, die dort arbeiten, könnten vermehrt auch an peripheren Spitälern dazu beitragen, dass die ersten vier Punkte meines Programms realisiert werden. Angesichts der zunehmenden Komplexität der Pharmakotherapie kann man sich auch fragen, ob nicht doch auch in der Schweiz klinische Pharmazeutinnen und Pharmazeuten ausgebildet werden sollten. Eine Investition in diese Richtung wäre sicher auch wirtschaftlich sinnvoll, da eine verbesserte Pharmakotherapie gesamthaft zu geringeren Kosten führt.

Standpunkte und Meinungen

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Pharmakotherapie im Spital nicht optimal (14. August 2001)
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pharma-kritik, 23/No. 05
PK263
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