Ivabradin
- Autor(en): Urspeter Masche
- pharma-kritik-Jahrgang 29
, Nummer 16, PK195
Redaktionsschluss: 14. April 2008
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2007.195 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Ivabradin (Procoralan®) wird zur symptomatischen Behand-lung bei stabiler Angina pectoris empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Die Schrittmacherzellen des Herzmuskels, wie sie zum Beispiel im Sinusknoten vorkommen, kennzeichnen sich durch ein instabiles Membranpotential: nach jedem Aktionspotential findet spontan eine langsame Depolarisation statt, bis die Zündschwelle für ein erneutes Aktionspotential erreicht ist. An der langsamen Depolarisation sind verschiedene Ionenströme beteiligt. Eine entscheidende Funktion scheint dem sogenannten If-Strom zuzukommen, der die Geschwindigkeit (Steigung der Kurve) der langsamen Depolarisation bestimmt und somit die Herzfrequenz beeinflusst. Der If-Strom wird durch zyklisches Adenosinmonophosphat (cAMP) aktiviert und durch Natrium- sowie Kaliumionen getragen. Er läuft über spezifische, als HCN-Kanäle («hyperpolarisation-activated, cyclic nucleotide-gated») bezeichnete Ionenkanäle, von denen vier Isoformen bekannt sind, die sich in ihren Eigenschaften und ihrer Verbreitung in den Geweben unterscheiden; im Herzmuskel kommt am häufigsten der Typ 4 vor.
Ivabradin bindet sich selektiv an intrazelluläre Rezeptoren der HCN-Kanäle in den Schrittmacherzellen und bremst den If-Strom. Dies führt zu einer Verlangsamung der Herzfrequenz, was mit einer Verbesserung der myokardialen Sauer-stoffversorgung einhergeht. Ivabradin hat keine antiarrhythmische Wirkung.(1-3)
Pharmakokinetik
Ivabradin wird nach oraler Verabreichung rasch resorbiert, so dass maximale Plasmaspiegel innerhalb von 0,75 bis 1,5 Stunden gemessen werden. Die biologische Verfügbarkeit beträgt wegen eines «First-pass»-Effekts lediglich 40%. Gleichzeitig eingenommene Nahrung verzögert die Resorption und erhöht die Exposition um 20 bis 30%. Ivabradin wird in der Leber über CYP3A4 oxydiert und hydroxyliert. Einer der Metaboliten erreicht genügend hohe Plasmaspiegel, um zur pharmakologischen Wirkung beizutragen. Unter einer Dauerbehandlung liegt die Eliminationshalbwertszeit bei 11 Stunden. Bei einer Leberfunktionsstörung vermindert sich die Clearance von Ivabradin.(3)
Klinische Studien
In den klinischen Studien zu Ivabradin wurden Patienten und Patientinnen mit bekannter koronarer Herzkrankheit behandelt, die an einer seit mindestens 3 Monaten bestehenden, belastungsinduzierten Angina pectoris litten und bei denen ein positives Belastungs-EKG vorlag. Neben der Studienmedikation war als einziges antianginös wirkendes Medikament ein kurzwirkendes Nitrat als Reserve erlaubt. Alle im Folgenden beschriebenen Studien waren doppelblind geführt.
In einer 2-wöchigen Dosisfindungsstudie erhielten 257 Personen eine von drei verschiedenen Ivabradin-Dosen (zweimal täglich 2,5, 5 oder 10 mg) oder Placebo. Mit einem Belastungs-EKG wurde ermittelt, wie lange es dauerte, bis eine ST-Senkung von mindestens 1 mm und eine Angina pectoris auftrat, die den Untersuchungsabbruch erforderten. Diese zwei Zeitspannen wurden durch alle drei Ivabradin-Dosen gegenüber Placebo verlängert, wobei der Unterschied nur mit der höchsten Ivabradin-Dosis bei beiden Messwerten signifikant war.(4)
Bei 884 Personen verglich man 4 Monate lang zwei Ivabradin-Dosen (während 4 Wochen zweimal täglich 5 mg, danach zweimal täglich 7,5 oder 10 mg) mit Atenolol (Tenormin® u.a.; während 4 Wochen einmal täglich 50 mg, danach einmal täglich 100 mg). Beim Belastungs-EKG konnte die Zeitdauer, bis der Test wegen Angina pectoris, Dyspnoe oder Müdigkeit beendet wurde – der primäre Endpunkt –, mit der niedrigeren Ivabradin-Dosis von 9,9 um 1,4 Minuten verlängert werden, mit der höheren von 9,9 um 1,5 Minuten und mit Atenolol von 9,6 um 1,3 Minuten. Unter der niedrigeren Ivabradin-Dosis liess sich die wöchentliche Zahl der Angina-pectoris-Anfälle im Durchschnitt von 3,1 auf 1,0 und diejenige der benötigten Nitrat-Dosen von 2,2 auf 0,6 vermindern, unter der höheren Ivabradin-Dosis von 3,3 auf 1,0 bzw. von 2,1 auf 0,8 und unter Atenolol von 3,7 auf 1,0 bzw. von 1,8 auf 0,6.(5)
In einer anderen, ähnlichen Studie wurden 1155 Personen mit Ivabradin (zweimal täglich 7,5 oder 10 mg) oder Amlodipin (Norvasc® u.a., einmal täglich 10 mg) behandelt. Nach 3 Monaten hatte sich die Dauer bis zum Abbruch des Belastungs-EKG bei der niedrigeren Ivabradin-Dosis um 28 Sekunden, unter der höheren um 22 Sekunden und unter Amlodipin um 31 Sekunden steigern lassen. In allen drei Gruppen wurde die Häufigkeit von Angina-pectoris-Attacken und der Verbrauch an kurzwirkenden Nitraten um die Hälfte bis zwei Drittel gesenkt.(6)
Zur Kombinationsbehandlung existiert ebenfalls eine Studie (die allerdings im Detail noch nicht publiziert ist): 728 Patienten und Patientinnen verabreichte man neben einer Basisbehandlung mit Amlodipin zusätzlich Ivabradin oder Placebo. Hinsichtlich antianginöser Wirkung fand man zwischen Ivabradin und Placebo nur bei dem Belastungs-EKG einen Unterschied, das 4 Stunden nach der letzten Tablet-teneinnahme durchführt wurde, nicht aber bei demjenigen nach 12 Stunden.(3)
Daten zur längerfristigen Verabreichung von Ivabradin liegen vor, sind aber noch nicht in vollständiger Form veröffentlicht. Sie zeigen, dass die antianginöse Wirkung von Ivabradin – gemessen an den Angina-pectoris-Anfällen und dem Nitratverbrauch – über den beobachteten Zeitraum von 1 Jahr anhält, und zwar in vergleichbarem Mass wie unter Atenolol.(3)
Unerwünschte Wirkungen
Abhängig von der verabreichten Dosis klagen 15 bis 30% der Behandelten über Sehstörungen; am häufigsten handelt es sich um Phosphene (abnorme Lichtwahrnehmungen, «Sternchensehen»), die einige Sekunden bis Minuten dauern, als relativ harmlos betrachtet werden und gemäss heutigem Wissensstand nicht mit bleibenden Folgen verbunden sind. Kardiale Probleme, die unter Ivabradin auftreten, sind unter anderem Bradykardien (eventuell mit Schwindel, Hypotonie oder Müdigkeit verbunden), supraventrikuläre und ventrikuläre Extrasystolen, ein AV-Block ersten Grades und tachykarde Rhythmusstörungen. Als weitere Nebenwirkungen werden Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall oder Verstopfung, Muskelkrämpfe sowie Dyspnoe angegeben.
Manifestationen der Grundkrankheit – koronare Ereignisse, Arrhythmien sowie damit assoziierte Todesfälle – scheinen unter Ivabradin ungefähr gleich häufig zu sein wie unter Amlodipin, jedoch häufiger als unter Atenolol.(3)
Interaktionen
CYP3A4-Hemmer erhöhen die Plasmakonzentration von Ivabradin: starke Hemmer wie Makrolide oder Azol-Anti-mykotika um das 7- bis 8-fache, mittelstarke – darunter auch Grapefruitsaft – um das 2- bis 3-fache. Namentlich soll Ivabradin nicht zusammen mit Kalziumantagonisten aus der Gruppe der Nicht-Dihydropyridine (Verapamil = Isoptin® u.a., Diltiazem = Dilzem® u.a.) verabreicht werden, die einerseits als CYP3A4-Hemmer fungieren, andererseits selbst die Herzfrequenz senken.
In Kombination mit CYP3A4-Induktoren ist mit verminderten Ivabradin-Spiegeln zu rechnen.
Da eine Herzfrequenzabnahme mit einer Verlängerung der QT-Zeit einhergeht, sollte Ivabradin nicht mit anderen Me-dikamenten verabreicht werden, die zu einer QT-Verlängerung führen.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Ivabradin (Procoralan®) ist als Tabletten zu 5 und 7,5 mg erhältlich. Die übliche Dosierung beträgt zweimal täglich 5 bis 7,5 mg; sie richtet sich nach Symptomatik und Herzfrequenz. Die offizielle Zulassung beschränkt sich auf die Therapie der stabilen Angina pectoris, wenn Betablocker nicht vertragen werden oder kontraindiziert sind.
Es wird geraten, Ivabradin zusammen mit einer Mahlzeit einzunehmen. Eine Kombination mit Betablockern oder Kalziumantagonisten ist nicht zu befürworten, da der Nutzen nicht dokumentiert bzw. mit einem erhöhten Bradykardierisiko zu rechnen ist. Bei Personen, die auf eine optimale Sehfunktion angewiesen sind (z.B. bei nächtlichem Autofahren), erscheint ein Hinweis auf die möglichen Sehstörungen sinnvoll. Bei starker Leberinsuffizienz sollte das Mittel nicht verschrieben werden. Ivabradin kann gemäss Tierversuchen embryotoxische sowie teratogene Effekte haben und wird in die Muttermilch ausgeschieden; es darf deshalb bei schwangeren und stillenden Frauen nicht verschrieben werden. Ivabradin ist kassenzulässig und kostet mit der empfohlenen Dosis 113 Franken pro Monat (5-mg- und 7,5-mg-Tabletten sind gleich teuer). Fast alle anderen Medikamente, die bei stabiler Angina pectoris verwendet werden, sind weitaus billiger: falls man, sofern vorhanden, ein Generikum wählt, liegt der monatliche Preis selbst einer höheren Dosis eines Betablockers, Kalziumantagonisten, langwirkenden Nitrates oder von Molsidomin (Corvaton®) in der Grössenordnung von 15 bis knapp über 20 Franken; einzig Nicorandil (Dancor®) ist mit maximal 73.70 Franken ebenfalls relativ teuer.
Kommentar
Ivabradin verspricht eine ungefähr gleich gute antianginöse Wirkung wie Betablocker oder Kalziumantagonisten, ist jedoch in seiner prophylaktischen Wirkung gegenüber koronaren Geschehnissen oder Arrhythmien den Betablockern unterlegen. Die Sehstörungen, die als häufige Nebenwirkung auftauchen, mögen zwar harmlos sein, dürften aber von Betroffenen trotzdem als unangenehm oder beunruhigend erlebt werden.
Dass Ivabradin als ein Medikament, das keinen erkennbaren Mehrwert bietet, sechs- bis neunmal teurer ist als fast alle Konkurrenzsubstanzen, liegt ausserhalb des Nachvollziehbaren. In allen anderen Konsumbereichen wäre eine solche Differenz undenkbar, und man fragt sich, ob hier nicht schlicht die Politik oder Behörden versagen. Zieht man den hohen Preis in Betracht, darf man Ivabradin als Mittel der letzten Wahl bei stabiler Angina pectoris einstufen.
Literatur
- 1) DiFrancesco D, Camm JA. Drugs 2004; 64: 1757-65
- 2) Sulfi S, Timmis AD. Int J Clin Pract 2006; 60: 222-8
- 3) http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs/EPAR/ procoralan/32044705en6.pdf
- 4) Borer JS et al. Circulation 2003; 107: 817-23
- 5) Tardif JC et al. Eur Heart J 2005; 26: 2529-36
- 6) Ruzyllo W et al. Drugs 2007; 67: 393-405
Standpunkte und Meinungen
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