Nebenwirkungen aktuell

ANTICHOLINERGIKA

Der Neurotransmitter Acetylcholin ist bei vielen physiologischen Prozessen von Bedeutung. Zahlreiche in der Praxis bedeutsame Medikamente haben anticholinerge Eigenschaften. Wichtige Beispiele sind die bei Reizblase und Dranginkontinenz verwendeten Mittel -  z.B. Oxybutynin (Ditropan® u.a.) -, einzelne Anti-Parkinsonmittel – z.B. Biperiden (Akineton® u.a.) – und das bei spastischen Magen-Darmproblemen verwendete Butylscopolamin (Buscopan®). Viele Antihistaminika, Antidepressiva und Neuroleptika verursachen anticholinerge Nebenwirkungen. Auch die inhalativ angewandten antimuskarinischen Mittel - z.B. Umeclidinium (Incruse Ellipta®) – können systemische anticholinerge Auswirkungen haben.

Informationen zu den Anticholinergika:

Collamati A et al. Aging Clin Exp Res 2016; 28: 25-35

Anon. Therapeutics Letter 2018 (113, July-August). https://www.ti.ubc.ca/2018/09/10/113-anticholinergic-antimuscarinic-drugs/

Anticholinerge Belastung

Viele ältere Menschen leiden an mehreren Krankheiten und nehmen entsprechend zahlreiche Medikamente ein, darunter auch solche mit anticholinergen Wirkungen. Die anticholinergen Eigenschaften von gleichzeitig eingenommenen Wirkstoffen summieren sich zur sogenannten anticholinergen Belastung («anticholinergic burden»). Eine Autorengruppe hat einen Score speziell für in Deutschland verfügbare Medikamente erarbeitet. Von 504 beurteilten Wirkstoffen hatten 29 ausgeprägte anticholinerge Eigenschaften. Weitere 18 Wirkstoffe wiesen mässige und 104 schwache anticholinerge Wirkungen auf.

Kiesel EK et al. BMC Geriatr 2018; 18: 239

Kognitive Leistung und Demenzrisiko

In einer Fall-Kontroll-Studie aus England wurden Daten von 58'769 Personen mit Demenz und 225'574 Personen ohne Demenz verglichen. 63,1% von ihnen waren Frauen; das mittlere Alter lag bei 82,2 Jahren. Die korrigierte «Odds Ratio» (OR) für Demenz betrug in der Gruppe mit der geringsten kumulativen anticholinergen Belastung 1,06 (95% CI 1,03-1,09) und in der Gruppe mit der grössten kumulativen anticholinergen Belastung 1,49 (95% CI 1,44 -1,54). Ein signifikanter Anstieg des Demenzrisikos ergab sich für Antidepressiva (OR 1,29), Anti-Parkinsonmittel (OR 1,52), Neuroleptika (OR 1,70), anticholinerge Medikamente für Blasenstörungen (OR 1,65) und Antiepileptika (OR 1,39). (Mehr als die Hälfte der erfassten Medikamente sind aktuell in der Schweiz nicht oder nicht mehr erhältlich.) Die Studienverantwortlichen betonen in ihrer Schlussfolgerung, dass es wegen des erhöhten Demenzrisikos von grosser Wichtigkeit sei, die anticholinerge Belastung bei Personen mittleren und höhereen Alters gering zu halten.

Coupland CAC et al. JAMA Intern Med 2019 Jun 24 [Epub ahead of print]; doi: 10.1001/jamainternmed.2019.0677

Der Einfluss von Medikamenten mit anticholinergen Wirkungen auf die Entwicklung einer Abnahme der kognitiven Leistung wurde in einer amerikanischen Kohortenstudie untersucht. 350 Personen ohne Demenz im Alter von mindestens 65 Jahren wurden in die Studie aufgenommen; die mittlere Beobachtungszeit betrug 3,2 Jahre. Bei Personen mit normaler kognitiver Funktion zu Studienbeginn erhöhte die Verschreibung von starken Anticholinergika die Wahrscheinlichkeit des Übergangs zu einer leichten Beeinträchtigung («mild cognitive impairment») signifikant (Odds Ratio 1,15, 95% CI 1,01-1,31). Höheres Alter hatte ebenfalls einen negativen Einfluss auf die kognitive Kompetenz; Bildung hingegen senkte das Risiko. Andere untersuchte Faktoren (z.B. Schlaganfall-Anamnese, Geschlecht, Rasse) beeinflussten das Risiko nicht. Die Studienverantwortlichen weisen darauf hin, dass noch sehr wenig erforscht ist, ob sich die kognitive Funktion durch Absetzen der Anticholinergika später wieder bessert.

Campbell NL et al. Pharmacotherapy 2018; 38: 511-9

Stürze und Frakturen

Das Sturzrisiko kann durch verschiedene unerwünschte Wirkungen von anticholinerg wirkenden Medikamenten (z.B. verschwommenes Sehen, Sedierung oder kognitive Beeinträchtigung) erhöht werden. In einer retrospektiven Studie wurde bei Personen mit hyperaktiver Blase der Zusammenhang zwischen der kumulativen anticholinergen Belastung und Stürzen bzw. Frakturen untersucht. 154’432 Erwachsene mit hyperaktiver Blase wurden mit 86’966 Erwachsenen verglichen, bei denen diese Erkrankung nicht vorlag. Das Durchschnittsalter lag bei 56 Jahren; 68% der Teilnehmenden waren Frauen. Die kumulative anticholinerge Belastung wurde auf einer Skala von 0 bis über 500 kategorisiert: 0 = keine Belastung, 1-89 = geringe, 90-499 = mittlere und  ≥500 = hohe Belastung. Die mittlere anticholinerge Belastung lag bei 30 Punkten; sie war bei älteren Personen deutlich höher als bei jüngeren (ab 65 Jahren: 183; unter 65 Jahren: 13). In einem für Alter, Geschlecht und Komorbiditäten bereinigten Berechnungsmodell stieg das Sturz- und Frakturrisiko mit der anticholinergen Belastung in den 6 Monaten vor dem Ereignis signifikant an. Verglichen mit den Personen ohne Belastung lag die Hazard Ratio (HR) unter geringer anticholinerger Belastung bei 1,2 und unter hoher Belastung bei 1,4. Verglichen mit den Personen ohne hyperaktive Blase waren Stürze und Frakturen bei Personen mit dieser Erkrankung um etwa 40% häufiger.

Szabo SM et al. BMJ Open 2019; 9: e026391

Nebenwirkungen bei der Behandlung einer COPD

Viele Patientinnen und Patienten mit einer chronisch-obstruktiven Lungenkrankheit (COPD) erhalten eine Langzeitbehandlung mit langwirkenden Muskarin-Antagonisten (LAMA) und Beta-Agonisten (LABA). Bei 154 in zwei kanadischen Spitälern behandelten Personen mit COPD wurde eine Befragung zu unerwünschten Wirkungen durchgeführt. Sie wurden je nach ihrer Medikation in drei Gruppen eingeteilt: LAMA und LABA, nur LAMA oder nur LABA. Mund- und Rachentrockenheit waren in allen drei Gruppen häufig (bei einem Viertel bis der Hälfte der Behandelten). Kopfschmerzen wurden besonders in der LABA-Gruppe beobachtet (bei 17%). In der Gruppe, die nur mit LAMA behandelt wurde, fiel lediglich eine Häufung von Harnretentionen auf. Personen, die LABA (oder LABA+LAMA) erhielten, hatten gesamthaft mehr unerwünschte Wirkungen. Gegenüber randomisierten Studien war eine grössere Zahl unerwünschter Wirkungen feststellbar. Diese könnten offensichtlich die Compliance ungünstig beeinflussen.

Rodrigue C et al. Respir Med 2016; 113: 65-73

Sehr oft ist die anticholinerge Wirkung eine unerwünschte Begleiterscheinung der Therapie. Die Liste der Medikamente mit einer solchen Wirkung ist lang. Werden neue, zusätzliche Medikamente verschrieben, so sollte stets die gesamte anticholinerge Belastung der behandelten Person bedacht werden. Auch müssen die Behandelten darauf hingewiesen werden, dass auch rezeptfrei erhältliche Medikamente diese Belastung erhöhen können. Neben den häufig vorkommenden direkten Nebenwirkungen sollten auch indirekte Effekte wie ein erhöhtes Sturzrisiko und (noch nicht abschliessend geklärte) Langzeitfolgen wie ein erhöhtes Demenzrisiko dazu veranlassen, anticholinergisch aktive Medikamente nur bei klarer Indikation und so kurz wie möglich zu verordnen.

GABAPENTINOIDE

Gabapentin und Pregabalin, die sogenannten Gabapentinoide, sind in ihrer chemischen Struktur sehr nahe verwandt. Ihre Wirkung soll auf der Bindung an die sogen. α2δ-Untereinheit von Kalziumkanälen in der Zellmembran von erregbaren Zellen beruhen, was zu einer reduzierten Freisetzung von Neurotransmittern führt. Gabapentin wurde ursprünglich für die Behandlung von fokalen epileptischen Anfällen entwickelt, ist jetzt aber auch zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen bei diabetischer Neuropathie oder postherpetischer Neuralgie bei Erwachsenen zugelassen. Pregabalin ist zur Behandlung neuropathischer Schmerzen, als Zusatz-Antiepileptikum und bei generalisierten Angststörungen zugelassen.

Informationen zu den Gabapentinoiden:

Masche UP. pharma-kritik 2010; 32: 15-6

Wiffen PJ et al. Cochrane Database Syst Rev 2017; 6: CD007938

Derry S et al. Cochrane Database Syst Rev 2019; 1: CD007976

Bonnet U, Scherbaum N. Eur Neuropsychopharmacol 2017; 27: 1185-215

Markennamen: Gabapentin = Neurontin® u.a.; Pregabalin = Lyrica® u.a.

Off-label-Verwendung

Für Gabapentin ist die einzige von der amerikanischen Zulassungsbehörde (FDA) zugelassene schmerzbezogene Indikation die postherpetische Neuralgie. Für Pregabalin sind die von der FDA zugelassenen Indikationen in Bezug auf Schmerzen begrenzt auf postherpetische Neuralgie, diabetische Neuropathie, Rückenmarksverletzungen und Fibromyalgie. Beide Wirkstoffe werden aber häufig «off-label» für verschiedene andere Schmerzsyndrome verschrieben. In einem kürzlich publizierten Beitrag zur «Less is more»-Kampagne wurde die sehr begrenzte Evidenz für solche Off-label-Anwendungen diskutiert. Entweder gibt es keine gut durchgeführten klinischen Studien, oder placebokontrollierte Studien haben über fehlende oder unsichere Wirksamkeit berichtet. Kritisiert wird die unkritische Ausweitung der zugelassenen Indikationen, die dazu geführt habe, dass Gabapentinoide manchmal als «hochwirksame Schmerzmittel» insbesondere bei neuropathischen Schmerzen betrachtet werden. Verstärkt wurde dieser Trend durch Bemühungen zur Senkung des Opioidkonsums bei chronischen, nicht-tumorbedingten Schmerzen. Dazu kommt zunehmender Missbrauch, der besonders bei Personen problematisch ist, die gleichzeitig Opioide sowohl illegal als auch via Rezept beziehen. Die Schlussfolgerungen lauten, dass eine vorsichtige Off-label-Verordnung von Gabapentinoiden bei Personen mit gewissen Schmerzyndromen gerechtfertigt sein könne. Die Patientinnen und Patienten müssten jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich um eine Off-label-Anwendung handle und dass Nebenwirkungen wie Schwindel und Schläfrigkeit häufig seien. Wenn die Behandlung keine oder wenig Wirkung zeigt, sollte sie abgesetzt werden.

Goodman CW et al. JAMA Intern Med 2019; 179: 695-701

Sicherheitsaspekte

In einer norwegischen Untersuchung wurden Datenbanken zu Nebenwirkungen und zu Verschreibungsdaten von Antiepileptika analysiert. Der Gesamtverbrauch von Antiepileptika hat sich zwischen 2004 und 2015 aufgrund zunehmender Anwendung bei neuropathischen Schmerzen und in der Psychiatrie fast verdoppelt. In diesem Zeitraum stieg in Norwegen die Verordnungshäufigkeit von 8,7 auf 15,7 Tagesdosen/1000 Einwohner. Es gab 403 Nebenwirkungsberichte mit insgesamt 1593 gemeldeten Nebenwirkungen. Das Alter der behandelten Personen lag zwischen 0 und 95 Jahren (im Mittel: 46 Jahre). Nebenwirkungen waren bei Pregabalin bei weitem am häufigsten (593 Meldungen), gefolgt von Carbamazepin, (265), Lamotrigin (206), Gabapentin (144) und Valproat (119). Die häufigste unerwünschte Wirkung von Pregabalin war Schwindel.

Baftiu A et al. Eur J Clin Pharmacol 2019; 75: 1153-60

Unfälle und Suizidgefährdung

In einer Kohortenstudie wurden Assoziationen zwischen Gabapentinoiden und negativen Auswirkungen im Zusammenhang mit Koordinationsstörungen (Verletzungen, Verkehrsunfälle, Verkehrsübertretungen), psychischer Gesundheit (Suizidalität, unbeabsichtigte Überdosierung) und Kriminalität (Gewaltverbrechen) untersucht. Daten von 191’973 Personen aus dem schwedischen Verschreibungsregister, denen zwischen 2006 und 2013 Pregabalin oder Gabapentin verschrieben worden war, wurden berücksichtigt. Alle Personen dienten als ihre eigenen Kontrollen, indem Phasen mit und ohne Gabapentinoid-Therapie verglichen wurden. Die Behandlung mit Gabapentinoiden war mit einem erhöhten Risiko für die folgenden Endpunkte verbunden: suizidales Verhalten und Todesfälle durch Suizid (Hazard Ratio [HR] 1,26), unbeabsichtigte Überdosierungen (HR 1,24), Verletzungen (HR 1,22), Verkehrsunfälle und -übertretungen (HR 1,13). Weniger eindeutig war der Zusammenhang mit Verhaftungen wegen Gewaltverbrechen (HR 1,04). Bei getrennter Untersuchung war das Risiko bei Pregabalin für alle Endpunkte erhöht, bei Gabapentin hingegen vermindert oder nicht signifikant erhöht. In einer altersgetrennten Analyse waren Personen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren besonders gefährdet; in den anderen Altersgruppen wurden heterogene Assoziationen gefunden, ab 55 Jahren war das Risiko vermindert oder es gab keinen klaren Zusammenhang.

Molero Y et al. BMJ 2019; 365: l2147

Vorhofflimmern

In einer retrospektiven Kohortenstudie wurden Personen im Alter von 65 oder mehr Jahren ohne kardiovaskuläre Erkrankung berücksichtigt, die zwischen Januar und März 2015 eine neue Behandlung entweder mit Gabapentin oder mit Pregabalin begonnen hatten. Sie wurden mit Personen verglichen, die ein Opioidanalgetikum, Alprazolam oder Diazepam erhalten hatten. Die Verschreibung von antithrombotischen und antiarrhythmischen Medikamenten wurde als Hinweis auf ein neu diagnostiziertes Vorhofflimmern gewertet. Im Vergleich zu Opioiden war bei der Einnahme von Gabapentinoiden das Risiko erhöht, dass in den ersten drei Monaten der Behandlung eine Therapie mit antithrombotischen und antiarrhythmischen Medikamenten eingeleitet wurde; für Gabapentin betrug das relative Risiko 2,91 und für Pregabalin 2,79. Der Vergleich mit Alprazolam/Diazepam ergab ähnliche Ergebnisse.

Ortiz de Landaluce L et al. Drug Safety 2018; 41: 1325-31

Engwinkelglaukom

In eine kanadische Fall-Kontroll-Studie wurden Erwachsene eingeschlossen, bei denen zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 31. Dezember 2016 ein akutes Engwinkelglaukom diagnostiziert wurde. Das Auftreten eines Engwinkelglaukoms war statistisch signifikant mit der Verwendung von Gabapentin im Jahr vor dieser Diagnose assoziiert (Rate Ratio [RR] 1,42). Für die gegenwärtige Verwendung von Gabapentin und für Pregabalin wurde keine statistisch signifikante Assoziation gefunden.

Browne M et al. J Glaucoma 2019 [Epub ahead of print]; doi: 10.1097/IJG.0000000000001330

Entzugssymptome

Ein 58-jähriger Mann kam wegen akuten respiratorischen Beschwerden und Konfusion in die Notfallstation. Er war wegen chronischen Nacken- und Rückenschmerzen mit hochdosierten Opioiden und Gabapentin (3-mal 1000 mg/Tag) behandelt worden. Seine Frau berichtete, dass er in den letzten drei Tagen zunehmend somnolent und verwirrt geworden sei und dass er alle Medikamente regelmässig eingenommen habe, mit einer zusätzlichen Morphin-Dosis 3-4 Stunden vor der Spitaleinweisung. Gabapentin wurde im Spital aufgrund der Lethargie des Patienten und des Atemversagens abgesetzt. Auch nach Behandlung der respiratorischen Insuffizienz kam der Patient nicht wieder zu klarem Bewusstsein; er war agitiert mit Akathisie-artigen rastlosen Bewegungen und nicht ansprechbar. Nach dem Ausschluss anderer Ursachen wurde schliesslich die Diagnose eines Gabapentin-Entzugs in Betracht gezogen. Die Verabreichung von Gabapentin via Magensonde führte zu einer raschen Besserung der motorischen Symptome; am nächsten Morgen war der Patient wieder ansprechbar und zeitlich und örtlich orientiert.

Singh H et al. Drug Ther Bull 2019; 57: 125-7

Die Verschreibungshäufigkeit der Gabapentinoide hat stark zugenommen, insbesondere die Off-label-Verwendung als Schmerzmittel. Nach wie vor gibt es aber hierfür kaum evidenzbasierte Daten; hingegen mehren sich Berichte über das Gefährdungs- und Abhängigkeitsrisiko dieser Substanzen. Zwei Cochrane-Analysen kamen zum Schluss, dass Gabapentin und Pregabalin für manche Menschen mit chronischen neuropathischen Schmerzen hilfreich sein können, dass aber nicht vorausgesagt werden kann, bei wem das Medikament helfen wird. Nach heutigem Kenntnisstand sei am besten ein kurzer Therapieversuch durchzuführen. Besonderes Interesse verdient die oben zusammengefasste Studie aus dem BMJ, die auf ein erhöhtes Risiko für unabsichtliche Überdosierungen, suizidales Verhalten und Verkehrsunfälle insbesondere bei Jüngeren hinweist. Sorgen bereitet auch die zunehmende Missbrauchsproblematik. Im April 2019 wurden Gabapentinoide in England in die Klasse C gemäss dem «Misuse of Drugs Act» eingeordnet, nachdem Todesfälle mit einem Missbrauch dieser Substanzen in Zusammenhang gebracht worden waren. Es ist somit in England illegal, Pregabalin und Gabapentin ohne Rezept zu besitzen oder an andere Personen abzugeben oder zu verkaufen.

METHYLPHENIDAT

Methylphenidat ist ein zentralnervöses Stimulans. Der Wirkungsmechanismus ist noch nicht vollständig geklärt, er beruht aber wahrscheinlich auf einer Hemmung der Wiederaufnahme von Dopamin im Striatum. Methylphenidat wird zur Behandlung von Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen verwendet; einzelne Methylphenidat-Präparate sind auch bei Erwachsenen zur Behandlung von ADHS oder einer Narkolepsie zugelassen.

Informationen zu Methylphenidat:

Kappeler T. pharma-kritik 2006; 28: 5-8

Gysling E. pharma-kritik 2011; 32: 56

Sturman N et al. Cochrane Database Syst Rev 2017; (11): CD011144

Storebo¸ OJ et al. Cochrane Database Syst Rev 2018; (5): CD012069

Markennamen: Methylphenidat = Ritalin® und andere

Risiko von kongenitalen Missbildungen

Der Gebrauch von Stimulantien nimmt unter schwangeren Frauen oder Frauen, die unabsichtlich schwanger werden könnten, rasch zu. In einer grossen Kohortenstudie (Daten von über 1,8 Millionen Schwangerschaften aus den USA und über 2,5 Millionen Schwangerschaften aus Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden) wurden die Risiken für die ungeborenen Kinder bei einer Einnahme von Methylphenidat oder Amphetaminen im ersten Schwangerschaftsdrittel untersucht. Nach Zusammenführung der Daten ergab sich eine Erhöhung des Risikos von Herzmissbildungen bei Einnahme von Methylphenidat (relatives Risiko 1,28). Bei den Amphetaminen fand man keinen Anstieg des Herzmissbildungsrisikos. Weder Methylphenidat noch Amphetamine erhöhten das allgemeine Missbildungsrisiko.

Huybrechts KF et al. JAMA Psychiatry 2018; 75: 167-75

Kein kurzfristiges Psychoserisiko

In einer Kohortenstudie wurde untersucht, ob durch eine Behandlung mit Methylphenidat das Risiko von Psychosen sofort nach Beginn der Therapie oder ein Jahr danach ansteigt. Dazu wurden Daten von 23’898 Personen, basierend auf drei schwedischen Registern (Swedish Prescribed Drug Register, National Patient Register und Total Population Register) für die Jahre 2007-2012 ausgewertet. Das mittlere Alter bei Behandlungsbeginn lag bei 17 Jahren. Bei 2% der Teilnehmenden war eine Psychose in der Vorgeschichte bekannt. Die «Rate Ratio» für die Inzidenz psychotischer Ereignisse in den 12 Wochen nach Behandlungsbeginn verglichen mit den 12 Wochen davor betrug 1,04 bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne frühere Psychose und 0,95 bei denjenigen mit einer Psychose in der Vorgeschichte. Die Studienverantwortlichen schliessen, dass eine neu begonnene Behandlung mit Methylphenidat das unmittelbare Risiko von psychotischen Ereignissen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen offenbar nicht erhöhe, dies unabhängig vom Vorhandensein psychotischer Ereignisse in der Vorgeschichte.

Hollis C et al. Lancet Psychiatry 2019; 6: 651-8

Übersicht zur Wirksamkeit und Verträglichkeit

In einer systematischen Übersicht wurden die Daten zu Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medikamenten, die zur Behandlung von ADHS verwendet werden, zusammengetragen. Analysiert wurden die Resultate von 133 Doppelblindstudien, in denen Amphetamine, Atomoxetin (Strattera®), Guanfacin (Intuniv®), Methylphenidat sowie die in der Schweiz nicht für diese Indikation zugelassenen Wirkstoffe Bupropion, Clonidin und Modafinil untereinander oder mit Placebo verglichen wurden. Bezüglich der Hauptsymptome waren bei Kindern und Jugendlichen alle Wirkstoffe wirksamer als Placebo; bei Erwachsenen waren Amphetamine, Methylphenidat, Bupropion und Atomoxetin wirksamer als Placebo, nicht aber Modafinil. Die Verträglichkeit war bei folgenden Wirkstoffen schlechter als unter Placebo: Amphetamine in allen Altersgruppen, Guanfacin bei Kindern und Jugendlichen sowie Atomoxetin, Methylphenidat und Modafinil bei Erwachsenen. Zusammenfassend wird festgehalten, dass bei Kindern und Jugendlichen Methylphenidat und bei Erwachsenen Amphetamine für eine kurzzeitige medikamentöse Behandlung von ADHS das beste Wirksamkeits/Verträglichkeits-Profil aufweisen würden. Allerdings konnten nur wenige Studien mit einer Beobachtungsdauer von mehr als 12 Wochen in die Übersicht aufgenommen werden; Analysen für eine Behandlungsdauer von 6 oder 12 Monaten waren nicht möglich.

Cortese S et al. Lancet Psychiatry 2018; 5: 727-38

In der Schweiz ist die offizielle Fachinformation zur Anwendung von Methylphenidat in der Schwangerschaft je nach Präparat sehr unterschiedlich. Dagegen lautet beispielsweise die Schlussfolgerung in der französischen «Revue Prescrire» ganz eindeutig, die Anwendung dieses Medikaments in der Schwangerschaft sei fetotoxisch und absolut kontraindiziert. In den seltenen Fällen, wo die Verordnung von Methylphenidat bei einer Frau im gebärfähigen Alter gerechtfertigt sei, wäre eine sichere Kontrazeption notwendig. Die zwei anderen oben zusammengefassten Studien zeigen für Methylphenidat keine Erhöhung des Psychoserisikos und eine unauffällige Verträglichkeit bei Kindern und Jugendlichen; beides konnte aber nur für die ersten 12 Wochen nach Behandlungsbeginn evaluiert werden. Nach wie vor sind zu wenig Daten zur Verträglichkeit einer längerdauernden Behandlung mit Methylphenidat vorhanden.

Standpunkte und Meinungen

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Nebenwirkungen aktuell (23. August 2019)
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pharma-kritik, 41/No. 4
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