Dreimonatskoliken

Zum Umgang mit den sogenannten Dreimonatskoliken bei Säuglingen ist ein Beitrag in der Ausgabe vom August 2018 des «Australian Prescriber» erschienen (1). In der «pharma-kritik» wurde dieses Thema 1992 in einem Artikel zur Symptomtherapie bei Säuglingen besprochen (2). Die Empfehlungen und die therapeutischen Optionen haben sich seither wenig verändert. Im folgenden Text wird im Wesentlichen der erwähnte Artikel aus dem «Australian Prescriber» zusammengefasst.

Als Dreimonatskoliken bezeichnet man übermässiges Schreien ohne bekannte Ursache bei ansonsten gesunden Säuglingen, das nach dem dritten oder vierten Lebensmonat von allein verschwindet. Bis zu 20% der Säuglinge sind betroffen.

Zur Einordnung des «übermässigen Schreiens» wurde traditionell die sogenannte Dreierregel nach Wessel et al. verwendet, nach der man von exzessivem Schreien spricht, wenn das Kind mindestens drei Stunden am Tag, mehr als drei Tage in der Woche und länger als drei Wochen hintereinander schreit. Diese aus dem Jahr 1954 stammende Regel wurde 2016 in den «Rome IV Criteria» zur Diagnostik von funktionellen Störungen des Verdauungsapparates durch folgende Kriterien ersetzt (3):

- Alter <5 Monate zu Beginn und am Ende der Symptomatik;
- Wiederkehrende und längere Perioden von Schreien, Aufregung oder Reizbarkeit, die ohne offensichtlichen Grund auftreten und von den Eltern nicht verhindert oder verkürzt werden können;
- Keine Anzeichen für Gedeihstörungen, Fieber oder Krankheit.

Obwohl Dreimonatskoliken als gutartig angesehen werden, sind sie eine grosse Belastung für die Familien und gelten als Risikofaktor für mütterliche Depression, Schütteltrauma
(Shaken-Baby-Syndrom) und frühes Abstillen.

Ursachen

Trotz intensiver Forschungsbemühungen ist die Pathogenese der Dreimonatskoliken immer noch nicht geklärt. Verschiedene Hypothesen werden diskutiert; dazu gehören Unreife der Darmfunktion, Motilitätsstörungen, Ungleichgewicht der Darmflora, Nahrungsmittel-Überempfindlichkeiten oder Allergien, eine unzureichende Interaktion zwischen Mutter und Kind, mütterliche Angst oder ein schwieriges Temperament beim Säugling (4).

Wichtig ist es, andere mögliche Ursachen des Schreiens durch sorgfältige Anamnese und Untersuchung auszuschliessen: Kuhmilchallergie, gastroösophageale Refluxerkrankung, Laktoseintoleranz oder übermässige Zufuhr von Laktose, Leistenbruch, Intussuszeption, Infektionen (Harnwegsinfektionen, Meningitis, Otitis media), Hydrozephalus, Tourniquet-Syndrom (Strangulation von Fingern oder Zehen durch Haare), Fremdkörper im Auge sowie nicht unfallbedingte Körperverletzungen.

Es wurde oft angenommen, dass gastro-ösophagealer Reflux bei Schreibabies eine Rolle spielt, säurehemmende Medikamente helfen jedoch nicht, das Schreien zu vermindern, und eine Korrelation zwischen pathologischem Reflux und Schreien bei Säuglingen im Alter unter drei Monaten konnte nicht durch Studien nachgewiesen werden (5). Reflux ist als Ursache wenig wahrscheinlich, wenn das Schreien nicht von häufigem Erbrechen (mehr als 5-mal täglich), Haematemesis und geringer Gewichtszunahme begleitet ist.

Eine Allergie auf Kuhmilcheiweiss ist vermutlich in weniger als 5% der Fälle die Ursache von übermässigem Schreien. Sie sollte in Betracht gezogen werden, wenn das Kind Ernährungsprobleme hat, schlecht gedeiht, viel erbricht, unter schleimigem oder blutigem Durchfall oder unter Ekzemen leidet und wenn Verwandte ersten Grades Atopiker sind. Die Symptome verschwinden bei diesen Kindern, nachdem die Mutter Milchprodukte aus ihrer Ernährung eliminiert hat oder bei Verwendung hypoallergener Säuglingsmilch. Bei Säuglingen mit diesen Symptomen sowie bei zunehmender Reizbarkeit über das Alter von drei Monaten hinaus sollte gemäss der Empfehlung im «Australian Prescriber» ein Diät-Versuch (hypoallergene Säuglingsnahrung oder Verzicht auf Milchprodukte bei stillenden Müttern) erwogen werden. Er sollte nur dann fortgesetzt werden, wenn die Symptome verschwinden und nach einer erneuten Zufuhr von Kuhmilchprotein erneut auftreten.

Die Daten zur Rolle einer Laktoseintoleranz oder Laktoseüberlastung (als Folge von häufigem Stillen, bei dem das Kind mehr Vormilch mit hohem Laktosegehalt trinkt) sind uneinheitlich und nicht konklusiv. Laktoseintoleranz oder Laktoseüberlastung sollte als Ursache des Schreiens in Betracht gezogen werden bei wässerigem, schaumigem, explosivem Durchfall mit perianaler Exkoriation oder Ulzeration (aufgrund von säurehaltigem Stuhl).

Medikamentöse Behandlung

Anticholinergika wie Dicyclomin oder Cimetropiumbromid, die in Australien offenbar verfügbar sind, eignen sich wegen ihres ungünstigen Nutzen/Risiko-Profils nicht zur Behandlung von Säuglingen.

Simeticon (Flatulex®), ein Mittel zur symptomatischen Behandlung übermässiger Gasansammlung oder Gasbildung im Magen-Darm-Bereich, war in einer Doppelblindstudie bei 83 Säuglingen im Alter zwischen 2 und 8 Wochen zur Linderung von Dreimonatskoliken nicht wirksamer als Placebo (6).  In einer Cochrane-Review wurden diese und zwei weitere, kleine Studien analysiert und gefolgert, dass für die Verwendung von Simeticon als schmerzlinderndem Mittel bei infantiler Kolik keine Evidenz gefunden werden konnte (7). Auch Protonenpumpenhemmer sind gemäss den Resultaten aus zwei systematischen Übersichten wirkungslos (8, 9).

Probiotika

In kleineren Studien mit ausgewählten Populationen verminderte die Verabreichung von Lactobacillus reuteri DSM17938 das Schreien bei Säuglingen mit Koliken. Die bisher grösste Doppelblindstudie zeigte hingegen keine positive Wirkung von L. reuteri, weder bei gestillten noch bei nicht gestillten Kindern (10). In einer 2018 publizierten Meta-Analyse kamen die Autorinnen und Autoren zum Schluss, dass Lactobacillus reuteri bei ausschliesslich gestillten Kindern mit Koliken wirksam sei und empfohlen werden könne; für flaschenernährte Kinder sei die Evidenz nicht ausreichend (11). Im «Australian Prescriber» wird ein dreiwöchiger Versuch mit dem Probiotikum L. reuteri DSM17938 bei gestillten Säuglingen als Option genannt. Es sei aber wichtig, die kontroversen Resultate der bisherigen Studien zu diskutieren und darauf hinzuweisen, dass das Probiotikum zwar als frei von kurzfristigen unerwünschten Wirkungen gilt, dass aber die langfristigen Auswirkungen einer Einnahme unbekannt sind.

Im März 2019 ist eine neue Cochrane-Review erschienen, gemäss der es keinen eindeutigen Beweis dafür gibt, dass Probiotika zur Verhinderung von Dreimonatskoliken wirksamer sind als Placebo (12). Die tägliche Schreidauer schien sich jedoch unter der Anwendung von Probiotika zu verkürzen. Es wurden keine klaren Unterschiede bezüglich unerwünschter Wirkungen gefunden. Die Evidenz wurde in dieser Cochrane-Review aufgrund der spärlichen Daten, der Heterogenität und des Risikos von Bias in den vorhandenen Studien als ausserordentlich gering eingestuft. Eine Änderung in der Verordnungspraxis sei basierend auf diesen Resultaten nicht zu empfehlen. Da diese Wirkstoffe in vielen Ländern rezeptfrei verfügbar sind, betonen die Studienverantwortlichen die Wichtigkeit einer Diskussion des unklaren Wissensstandes mit den betroffenen Familien.

In der Schweiz ist Lactobacillus reuteri als Nahrungsergänzungsmittel zur Linderung von Säuglingskoliken in Drogerien erhältlich (Bigaia® Tropfen).

Andere Behandlungsformen

Ernährungsumstellungen bei Mutter oder Kind wie hypoallergene mütterliche Ernährung, hypoallergene Säuglingsmilch oder Milchersatz auf Sojabasis wurden in verschiedenen Studien und Meta-Analysen untersucht (13-16). Allerdings waren die meisten Studien klein und von schlechter methodischer Qualität und der Nutzen einer solchen Umstellung für Kinder ohne Allergie auf Kuhmilcheiweiss wurde darin nicht belegt.

Im Oktober 2018 wurde eine Cochrane-Review über die Auswirkungen einer Ernährungsumstellung zur Verminderung von Koliken bei Säuglingen unter vier Monaten publiziert. In der Auswertung von 15 randomisierten Studien mit insgesamt 1121 Säuglingen wird betont, dass die vorhandene Evidenz nicht ausreicht, um irgendeine Empfehlung für oder gegen eine der diätetischen Massnahmen zu formulieren (17).

Verhaltensänderungen wie z.B. Verminderung der Stimulation oder Verbesserung der elterlichen Reaktionen können wirksam sein. Dies wurde aber nur in unverblindeten Studien untersucht, die anfällig sind für Verfälschungen der Resultate. Akupunktur wurde in zwei Studien als effektiv beschrieben, beide waren jedoch durch methodische Einschränkungen belastet. Pflanzliche Mittel können die Dauer des Weinens vermindern, allerdings ist die hierfür vorhandene Studienevidenz ebenfalls gering (7). Zu beachten ist, dass die Verabreichung grosser Mengen von Kräutertee die Milchaufnahme vermindern und die Gefahr von Ernährungsmängeln mit sich bringen kann. Wickeln (festes Einwickeln des Säuglings in Stoffbinden oder in ein Tuch, eine uralte Praxis) kann sich positiv auswirken, aber es gibt Bedenken, dass es das Risiko einer Hüftdysplasie erhöhen kann (18,19). Saccharose-Lösung verminderte in einer Studie die Schreidauer, wirkt aber nur kurz (7). Massagen, Musik und Wirbelsäulen-Manipulationen sind gemäss den vorhandenen Studienresultaten wirkungslos. 

Beratung

Es ist wichtig, die Wahrnehmung der Familie zu erfragen, ihre Sorgen anzuhören und ihre Gefühle von Ärger, Frustration und Erschöpfung anzuerkennen. Eine Diskussion der verschiedenen Hypothesen über Koliken kann hilfreich sein. Eine postnatale Depression bei der Mutter muss gesucht werden, ebenso soll aber auch das Wohlbefinden des Vaters beachtet werden.

Der Umgang mit Phasen extremen Weinens sollte angesprochen werden; die neurologischen Folgen eines Schütteltraumas sollten erklärt und Strategien zur Vermeidung vorgeschlagen werden. Strategien zur Beruhigung des Säuglings und Empfehlungen zur Verminderung von Umweltreizen sollten besprochen werden.

Die selbstlimitierende Natur der Dreimonatskolik ist für die Familien oft eine grosse Beruhigung. Es ist auch essentiell, Gefühle von Schuld oder Versagen zu lindern und die Eltern zu ermutigen, sich angemessene Pausen von ihrem weinenden Kind zu gönnen.

Schlussfolgerungen

Die wichtigste Massnahme bei Dreimonatskoliken ist die Unterstützung der Familien mit Strategien im Umgang mit der Ernährung, der Beruhigung und dem Schlaf des Säuglings sowie eine Empfehlung zur Verminderung von Umweltreizen. Ebenso müssen eine elterliche Depression, die Gefahr von Kindsmisshandlung und ein frühzeitiges Abstillen sowie unerwünschte Langzeitauswirkungen vermieden werden. Der Mangel an Evidenz für jegliche aktive Intervention sollte mit den Eltern besprochen werden. 

Standpunkte und Meinungen

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Dreimonatskoliken (16. April 2019)
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