Nebenwirkungen aktuell

5-ALPHA-REDUKTASEHEMMER

5-alpha-Reduktasehemmer, vertreten durch Finasterid und Dutasterid, bremsen die Umwandlung von Testosteron zu Dihydrotestosteron, das für die androgene Wirkung in den Geweben verantwortlich ist. Beide Substanzen werden bei der benignen Prostatahyperplasie verwendet, Finasterid – in niedrigerer Dosierung – auch zur Behandlung der androgenetischen Alopezie.

Informationen zu 5-alpha-Reduktasehemmern:


Röllin A. pharma-kritik 2015; 37: 1-4

Mysore V, Shashikumar BM. Indian J Dermatol Venereol Leprol 2016;

82:128-34

Jun JE et al. Can J Hosp Pharm 2017; 70: 113-9


Markennamen:

Finasterid = Proscar® u.a. (Prostatahyperplasie), Propecia® u.a.

(Alopezie)

Dutasterid = Avodart® (Fixkombination mit Tamsulosin = Duodart®)

Depressionen

Der aus verschiedenen Quellen genährte Verdacht, dass 5-alpha-Reduktasehemmer zu Depressionen und Suiziden beitragen könnten, wurde in einer grossen retrospektiven Kohortenstudie untersucht. Mehr als 90’000 ältere Männer, die mit Finasterid oder Dutasterid behandelt worden waren, verglich man mit einem gleich grossen Kollektiv, in dem keine 5-alpha-Reduktasehemmer verordnet gewesen waren. Bei den Männern unter 5-alpha-Reduktasehemmern war signifikant häufiger eine Depression diagnostiziert worden als in der Kontrollgruppe, wobei man für die ersten 1½ Behandlungsjahre eine «Hazard Ratio» (HR) von 1,94 (95% CI 1,73–2,16) ermittelte; auch für Suiziddrohungen und -versuche oder entsprechendes selbstschädigendes Verhalten ergab sich eine erhöhte HR von 1,88 (1,34–2,64). Die Unterschiede zur Kontrollgruppe waren sowohl für Finasterid wie für Dutasterid signifikant. Vollendete Suizide waren insgesamt selten und unter 5-alpha-Reduktasehemmern nicht häufiger als in der Kontrollgruppe.

Welk B et al. JAMA Intern Med 2017; 177: 683-91

Muskelprobleme

Ein jüngerer Mann wurde wegen einer erhöhten Aktivität der Kreatinkinase (CK) auf über 10’000 E/l und bei sonst normalen Laborwerten einer spezialärztlichen Untersuchung zugeführt; seit zwölf Jahren nahm er wegen einer Alopezie Finasterid (gemäss Fallbericht in der Dosis von 5 mg/Tag) und schon seit rund zehn Jahren litt er an Muskelschmerzen in Armen und Beinen. Eine aussergewöhnliche körperliche Betätigung in den drei Wochen vor der CK-Messung oder eine Verletzung wurden verneint. Finasterid wurde abgesetzt, wonach die CK-Aktivität innerhalb von vier Wochen auf 355 E/l sank. Bei der nächsten Kontrolle nach zwei Monaten gab der Mann an, dass immer noch Myalgien bestünden, sie aber deutlich besser geworden seien. Es fand nochmals eine eingehende Anamnese und neurologische Untersuchung statt, die bis zur Muskelbiopsie reichte, wobei keine spezifische Abnormität identifiziert werden konnte. Einen Monat später waren dann die Muskelschmerzen ganz verschwunden und die CK-Aktivität auf einen Wert (250 E/l) gesunken, der nur noch leicht erhöht war.

Al-Harbi TM et al. J Clin Neuromuscul Dis 2008; 10: 76-8

Ein 35-jähriger Mann, dessen Haarausfall man seit vier Monaten mit Finasterid (1 mg/Tag) behandelte, wurde wegen einer vor allem die proximalen Extremitäten betreffenden bestehenden Muskelschwäche und damit verbundenen Muskelschmerzen abgeklärt; ausserdem hatte er Doppelbilder, die auf einer Schwäche aller äusseren Augenmuskeln beruhten, und eine leichte Ptose. Bei den Laborwerten fielen erhöhte CK-, CK-MB- und Myoglobinspiegel auf. Die Kernspintomographie des Gehirns sowie die Liquoruntersuchung ergaben keinen pathologischen Befund. Mit Hilfe elektrophysiologischer Untersuchungen wurde die Diagnose einer akuten progressiven Myopathie gestellt. Mangels anderer erkennbarer Ursachen fiel der Verdacht auf Finasterid. Man stoppte das Medikament, und innerhalb eines Monats normalisierten sich sowohl die Muskelschwäche als auch die Muskelenzyme und der Myoglobinspiegel.

Ryu HJ, Kwon DY. Dermatol Surg 2014; 40: 595-7

Die kanadische Arzneimittelbehörde verfügt über 11 Meldungen zu Muskelproblemen, die im Zusammenhang mit einer Finasterid-Behandlung aufgetreten sind. In 4 Fällen wurde die Art der Muskelprobleme etwas genauer beschrieben, und zwar als Myopathie, Myalgie oder Muskelschwäche. Soweit bekannt, verschwanden die Beschwerden nach Absetzen von Finasterid wieder.

In der WHO-Datenbank finden sich über 500 Berichte, aufgrund derer man einen Zusammenhang zwischen Finasterid und muskulären Nebenwirkungen vermuten kann. Erwähnt wurden unter anderem Muskelatrophie, -schwäche, -schmerzen und -spasmen.

Dokument von «Health Canada»: https://goo.gl/pqTRDg

Post-Finasterid-Syndrom

Ein 33-jähriger Mann erhielt wegen einer androgenetischen Alopezie Dutasterid (0,5 mg/Tag). Unter der Behandlung entwickelten sich generalisierter Juckreiz, Brennen beim Wasserlösen, Bauchbeschwerden und Seborrhoe. Er hörte auf, Dutasterid zu nehmen; die Symptome verschwanden aber erst, als der Mann ein regelmässiges Bewegungsprogramm durchführte. Einige Zeit später begann er wieder eine Alopeziebehandlung, dieses Mal mit Finasterid (1 mg/Tag). Damit kehrten der Juckreiz und die anderen Symptome zurück. Sie verschwanden auch nach Absetzen von Finasterid nicht. Bei den Laborwerten waren der Testosteronspiegel mit 227 ng/dl relativ niedrig, die übrigen Parameter normal. Ausserdem konnte man in der Samenflüssigkeit Enterokokken nachweisen. Es wurden verschiedene Behandlungen versucht, unter anderem mit Antihistaminika, mit äusserlich angewendeten Antibiotika und Antimykotika sowie mit Alprazolam, die aber alle ohne Erfolg blieben.

Gupta AK et al. Indian J Pharmacol 2016; 48: 316-7

Mit dem Begriff «Post-Finasterid-Syndrom» werden verschiedenartige Beschwerden zusammengefasst, die unter der Behandlung mit einem 5-alpha-Reduktasehemmer auftreten und auch nach dessen Absetzen über lange Zeit andauern können. Dazu gehören hauptsächlich sexuelle Symptome (Libidoverlust, erektile Dysfunktion, vermindertes Ejakulatvolumen, Verkleinerung und Taubheitsgefühl des Penis und Skrotums u.a.), neuropsychologische Symptome (Gedächtnisschwierigkeiten, Schlaflosigkeit, Depressivität, Ängstlichkeit, Suizidalität u.a.) sowie andere Symptome wie Gynäkomastie, chronische Müdigkeit, Muskelatrophie, Hautveränderungen, Fettleibigkeit u.a. Eine effektive Behandlung gegen diese Beschwerden ist bislang nicht bekannt.

Anon. Prescr Update 2016; 37: 8-9

Dass 5-alpha-Reduktasehemmer anscheinend zu sehr beeinträchtigenden und nur schlecht beeinflussbaren Störungen führen können, ist eine in den letzten Jahren gereifte Erkenntnis, die unterdessen auch den Weg in die Laienpresse gefunden hat und in den USA bereits eine Klageflut ausgelöst haben soll. Vor allem die Verschreibung von 5-alpha-Reduktasehemmern als Haarwuchsmittel dürfte angesichts solcher Risiken in Bedrängnis geraten – wobei nicht zu vergessen ist, dass der Bezug auch auf dem Schwarzmarkt des Internets erfolgt und sich ärztlicher Einflussnahme entzieht. (UM)



 

KETAMIN

Ketamin ist ein «dissoziatives» Anästhetikum, das in den 1970-er Jahren zum Einsatz als Allgemeinanästhetikum sowie zur Kurzzeit-Anwendung bei diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen zugelassen wurde. Das Medikament wird heute auch «off-label» bei therapieresistenten Depressionen eingesetzt, wobei es intramuskulär oder intravenös injiziert sowie oral oder intranasal verabreicht wird.

Übersichten zu Ketamin (Auswahl):

Xu Y et al. Int J Neuropsychopharmacol 2016; 16: 1-15

Radvansky BM et al. Am J Ther 2016; 23: e1414-26

Gao M et al. Acta Pharmacol Sin 2016; 37: 865-72

Kurdi MS et al. Anesth Essays Res 2014; 8: 283-90

Präparatename: Ketalar® u.a.

Gewöhnung/Abhängigkeit

Eine 50jährige Frau, die als Narkoseschwester tätig war, erkrankte an einer schweren Depression. Sie beschaffte sich im Spital Ketamin und begann, sich wöchentlich 50 mg Ketamin intramuskulär zu injizieren. Im Laufe von sechs Monaten steigerte sie die Ketamin-Dosis allmählich bis auf 2 g täglich. Dies war von ausgeprägten psychischen Veränderungen, Bewusstseinsstörungen und Gedächtnisverlust begleitet. Schliesslich musste sie hospitalisiert werden, um einen Entzug durchzuführen. Dieser gestaltete sich schwierig und war von einer erneuten schweren Depression gefolgt. Unter Behandlung mit Venlafaxin (Efexor® u.a.) kam es schliesslich zur Besserung; nach weiteren 14 Wochen konnte ein unauffälliger psychischer Status festgestellt werden.

Bonnet U. J Psychoactive Drugs 2015; 47: 276-85

Ein Mann musste innerhalb von drei Jahren viermal wegen einer schweren Depression psychiatrisch hospitalisiert werden. Bei der ersten Hospitalisation war er 52 und hatte bereits eine jahrzehntelange Anamnese von rezidivierenden Depressionen; vor Spitaleintritt war er erfolglos mit verschiedenen Antidepressiva und Augmentationstherapien behandelt worden. Mit einer elektrokonvulsiven Therapie konnte eine bedeutsame Besserung erreicht werden. 15 Monate später wurde er wiederum hospitalisiert, da sich erneut eine Depression mit suizidalen Ideen entwickelt hatte. Der Patient berichtete bei dieser Gelegenheit, er hätte zwischenzeitlich erfolgreich Ketamin intranasal appliziert. Er erhielt jedoch im Spital kein Ketamin und konnte nach wenigen Tagen wieder entlassen werden. Drei Monate später musste er wegen Depression und Tendenz zu Alkoholmissbrauch wieder aufgenommen werden; er berichtete über die Anwendung von intranasalem Ketamin in hoher Frequenz (10- bis 12mal täglich in einer Dosis von 75 bis 150 mg). Nochmals einen Monat später wurde er wegen eines Suizidversuchs ein viertes Mal hospitalisiert; er hatte sich offenbar kein Ketamin mehr verschaffen können. Ein längerer Spitalaufenthalt wurde abgelehnt. Drei Monate später starb der Patient bei einem (vermutlich suizidalen) Selbstunfall mit dem Auto.

Schak KM et al. Am J Psychiatry 2016; 173: 215-8

Übersicht zu den Nebenwirkungen

In einer aktuellen systematischen Übersicht sind die Daten zu den unerwünschten Wirkungen von Ketamin bei der Anwendung bei Depressionen zusammengetragen. Berücksichtigt wurden Arbeiten, in denen über die ein- oder mehrmalige Anwendung von Ketamin bei depressiven Erwachsenen berichtet wurde. Von 288 in den grossen Datenbanken verzeichneten Publikationen genügten 60 den Auswahlkriterien. Es fanden sich gesamthaft nur wenig zuverlässige Daten; insbesondere liegen zur wiederholten Anwendung von Ketamin wenig Informationen vor und zur längerfristigen Behandlung fast gar keine. Die weitaus meisten Berichte betreffen Untersuchungen ohne Kontrollgruppen, nicht-randomisierte bzw. offene Studien oder Fallberichte. Auch waren oft nur sehr wenige Personen behandelt worden.

In der Mehrzahl der Berichte wurden psychotomimetische oder dissoziative Nebenwirkungen (abnorme Empfindungen, Halluzinationen, Identitätsstörungen, Amnesie) beschrieben, insbesondere nach intravenöser Ketamingabe. Viele andere psychiatrische Symptome wurden rapportiert, z.B. Angstzustände, Reizbarkeit, Euphorie, Panik. Der Zusammenhang mit der Verabreichung des Medikamentes war jedoch nicht immer offensichtlich.

Die häufigsten kardiovaskulären Nebenwirkungen waren ein Anstieg des Blutdrucks und/oder der Herzfrequenz. Diese traten meistens im Zusammenhang mit einer intravenösen Verabreichung auf und verschwanden innerhalb von 1½ Stunden wieder. Neurologische Effekte (Kopfschmerzen, Schwindel) waren in der Regel ebenfalls von kurzer Dauer. Dies gilt auch für kognitive Auswirkungen (Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, Verwirrung). Viele weitere Symptome wurden beobachtet, am häufigsten Visusstörungen und Übelkeit.

Probleme, die unter Ketamin bei längerfristiger Anwendung oder bei Missbrauch auftreten, wurden in den vorliegenden Arbeiten kaum überprüft. So fehlen insbesondere Informationen zu anhaltenden Störungen der Kognition, zur Entwicklung einer Abhängigkeit und zu Auswirkungen auf den Harntrakt und die Leber und Gallenwege. So sind beispielsweise uro-genitale Probleme bei mehr als 20% der Personen bekannt, die Ketamin als «Party-Droge» verwenden.

Die Übersicht schliesst mit der Schlussfolgerung, mögliche Risiken einer längerfristigen Verabreichung von Ketamin seien ungenügend dokumentiert. Damit Ketamin gefahrlos bei Depressionen eingesetzt werden könne, müssten zunächst entsprechende adäquate klinische Studien durchgeführt werden.

Short B et al. Lancet Psychiatry 2017; 4 (online 27. Juli)

Es ist beängstigend, wie wenig man über das «Wunder-Antidepressivum» Ketamin weiss. Dass die Substanz bei Anwendung als «Party-Droge» katastrophale Folgen – Wahnsymptome, Sucht – haben kann, weiss man heute zur Genüge. Auch dass ein Wirkstoff mit stark dissoziativen Auswirkungen zum temporären Verblassen depressiver Symptome führen kann, ist einleuchtend. Bei den allermeisten Depressiven, die so behandelt werden, ist dieser Effekt aber nach wenigen Tagen wieder verschwunden. Ob es sich verantworten lässt, Ketamin unter diesen Umständen «off label» zu verschreiben, halte ich für äusserst fragwürdig. (EG).

OPIOIDE

Die Verschreibung von Opioiden hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Obwohl sie dem Betäubungsmittelgesetz unterstehen, werden stärker wirkende Opioide (Fentanyl, Hydromorphon, Morphin, Oxycodon, Tapentadol) recht häufig verordnet. Aber auch die «schwächeren» Opioide wie Codein und Tramadol sind nicht problemlos. Wir haben besonders in unseren Online-Mitteilungen immer wieder auf die Problematik der Opioide hingewiesen. Im Folgenden werden Texte zu aktuellen Aspekten der «Opioid-Epidemie» zusammengefasst.

Übersichtsarbeiten zum Nutzen der Opioide bei chronischen Schmerzen:

Chou R et al. Ann Intern Med 2015; 162: 276-86

Chaparro LE et al. Cochrane Database Syst Rev 2013; (8): CD004959

McNicol ED et al. Cochrane Database Syst Rev 2013; (8): CD006146

Präparatenamen (Auswahl, orale Präparate):

Buprenorphin = Temgesic® und andere

Codein (Bestandteil von Co-Dafalgan®)

Fentanyl = Durogesic® und andere

Hydromorphon = Palladon® und andere

Morphin = MST Continus® und andere

Oxycodon = Oxycontin® und andere

Tapentadol = Palexia®

Tramadol = Tramal® und andere

Erhöhte Mortalität

In einer retrospektiven Kohortenstudie wurde untersucht, wie sich die Verabreichung langwirkender Opioide bei Personen mit chronischen, nicht-krebsbedingten Schmerzen auf die Mortalität auswirkt. Dazu wurden Daten der staatlichen Krankenversicherung Medicaid im amerikanischen Bundesstaat Tennessee für die Jahre 1999 bis 2012 ausgewertet. Verglichen wurden die Opioide (Fentanyl, Methadon, Morphin- und Oxycodon-Retardpräparate) mit trizyklischen Antidepressiva (z.B. Amitriptylin) und mit Antiepileptika, die als Schmerzmittel eingesetzt wurden (Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin). Die meisten Patientinnen und Patienten erhielten die Medikamente wegen Rückenschmerzen oder anderen Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparates. Nach Abgleich der beiden Kohorten (mittels «propensity score-matching») konnten 22'912 Fällen von Opioid-Verschreibung ebensoviele Fälle von Verschreibung der Vergleichsmedikamente gegenübergestellt werden. Anhand der Todesbescheinigungen wurden die «Hazard Ratio» und die Risikounterschiede zwischen den beiden Kohorten ausgerechnet.

Personen, die ein langwirkendes Opioid erhielten, hatten gegenüber den Personen der Vergleichsgruppe ein um 1,64 höheres Sterberisiko. Dieser Unterschied beruhte auf Todesfällen, die sich ausserhalb des Spitals ereigneten. Auf 10'000 Personenjahre ereigneten sich in der Gruppe der Opioid-Behandelten schätzungsweise 69 zusätzliche Todesfälle; davon beruhten 47 nicht auf einer Überdosierung, insbesondere 29 auf kardiovaskulären Ursachen. Auch wenn die Individuen ausgeschlossen wurden, die das als arrhythmogen bekannte Methadon erhalten hatten, blieb das erhöhte kardiovaskuläre Risiko bestehen. Die kardiovaskuläre Übersterblichkeit ist auch insofern bemerkenswert, als von den Personen in der Vergleichgsgruppe etwa die Hälfte trizyklische Antidepressiva erhielten. Die vorliegenden Resultate ergänzen andere Daten, die ebenfalls auf relevante Risiken einer Opioidbehandlung bei Personen hinweisen, die keine lebensbedrohliche Erkrankung haben.

Ray WA et al. JAMA 2016; 315 : 2415-23

Neue kanadische Leitlinie

Eine Gruppe von Fachleuten (unter Mitwirkung von Kollegen, die an Schweizer Universitäten tätig sind) hat für Kanada zur Anwendung von Opioiden bei nicht-krebsbedingten Schmerzen eine neue Leitlinie ausgearbeitet. Zehn konkrete Empfehlungen wurden formuliert; vier davon sind als «wesentlich» («strong recommendation») bezeichnet. Wesentliche Empfehlungen sind solche, die für praktisch alle behandlungsbedürftigen Individuen gelten und die auch von gut informierten Patientinnen und Patienten als beste Option gewählt würden.

Hier die «wesentlichen» Empfehlungen:

- Statt eines Therapieversuches mit Opioiden sollten sämtliche Möglichkeiten der Behandlung mit anderen Schmerzmitteln und mit nicht-medikamentösen Methoden optimiert werden.

-  Personen, die bereits von anderen Wirkstoffen abhängig sind («active substance use disorder» wie z.B. Alkoholabhängigkeit) sollten nicht mit Opioiden behandelt werden.

- Zu Beginn einer Opioid-Behandlung sollte die maximale Tagesdosis weniger als 90 mg Morphin-Äquivalente betragen («schwächere» Empfehlung: weniger als 50 mg).

- Personen, denen es nicht gelingt, ihre Opioiddosis sinnvoll zu reduzieren, sollten nach Möglichkeit von einem multidisziplinären Team betreut werden.

(Alle Empfehlungen beziehen sich auf die Behandlung von Schmerzen, die nicht im Zusammenhang mit malignen Erkrankungen stehen.)

Busse JW et al. CMAJ 2017; 189: E659-66

Zunahme der Verschreibung in der Schweiz

Anhand der Daten der Krankenkasse Helsana wurde untersucht, wieviele und welche Schmerzmittel in der Schweiz verschrieben werden. (Bei der Helsana sind rund 1,2 Millionen Personen versichert.) Analysiert wurden die Schmerzmittel-Verschreibungen vom Januar 2006 bis Dezember 2013. In diesem Zeitraum nahm die Verschreibung praktisch aller Schmerzmittel zu. Umgerechnet auf 100'000 Personen wurden zum Beispiel 143% mehr hochdosierte Paracetamol-Tabletten (1000 mg) und 242% mehr Metamizol-Präparate verschrieben. Die Zunahme der Metamizol-Verordnung war weitgehend auf die Deutschschweiz beschränkt. Von den «schwächer» wirkenden Opioiden wurde Codein etwas seltener und Tramadol um 23% häufiger verordnet. Viel häufiger wurden dagegen stark wirkende Opioide verschrieben: Unter Berücksichtigung Morphin-äquivalenter Dosen betrug die Zunahme 117% (auf 100'000 Personen). Am häufigsten wurde Fentanyl eingesetzt, gefolgt von Buprenorphin und Oxycodon. In fünf Kantonen wurden im Laufe der Beobachtungsperiode mehr als 200% mehr starke Opioide verordnet. Offensichtliche Gründe für die Zunahme und die regionalen Unterschiede sind nicht auszumachen. Im Vergleich mit den USA hat die Opioid-Verschreibung in der Schweiz weniger zugenommen; dennoch lässt sich nicht ausschliessen, dass sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis auch hier ungünstig verändert hat.

Wertli MM et al. BMC Health Services Research 2017; 17: 167

Die Pharmakotherapie von Schmerzen erfolgt zweifellos in hohem Masse irrational. Anders liessen sich die grossen Unterschiede zwischen den Ländern (und sogar zwischen den Kantonen) nicht erklären. Dabei sind Schmerzen in der täglichen Praxis eines der häufigsten und oft auch drängendsten Probleme. Zudem gibt es kaum einen anderen Bereich, in dem Placebo- oder allerlei Suggestiv-Effekte eine so bedeutsame Rolle spielen. Wenn wir aber dem Prinzip des «primum nihil nocere» folgen wollen, so sind im Zusammenhang mit stark wirkenden Opioiden zwei Überlegungen von Bedeutung: 1. Es ist ungenügend nachgewiesen, dass diese Medikamente längerfristig anderen schmerzlindernden Massnahmen (medikamentöser und nicht-medikamentöser Natur) überlegen wären. 2. Es ist wahrscheinlich, dass eine längerfristige Anwendung stark wirkender Opioide zu einer höheren Mortalität als andere Schmerzmittel führt. (EG).

Standpunkte und Meinungen

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Nebenwirkungen aktuell (27. November 2017)
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pharma-kritik, 39/No. 7
PK1026
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