Retardiertes Morphin zur Opioid-Substitution

Bei der Behandlung von Personen mit einer chronischen Opioid-Abhängigkeit gilt heute die Opioid-Substitution als beste Wahl. Ziel der Opioid-Substitution ist die Reduktion der Mortalität und des Risikos von Infektionskrankheiten, die soziale Integration und die Verbesserung der Lebensqualität. In der Schweiz standen bisher zu diesem Zweck Methadon, Diacetylmorphin (Heroin, Diaphin®) und Buprenorphin (z.B. Subutex®) zur Verfügung. Die Schweiz. Gesellschaft für Suchtmedizin hat dazu genauere Empfehlungen publiziert (1). Probleme bei der Behandlung sind die kurze Wirkungszeit von Diacetylmorphin, das Risiko einer QTc-Verlängerung und exzessives Schwitzen bei Methadon und die lange Wartezeit nach Konsum der letzten Opioiddosis bei Buprenorphin. Neu ist auch das orale Morphin-Retardpräparat Sevre-long®, das schon seit einigen Jahren zur Schmerztherapie verfügbar ist (2), zur Substitution zugelassen.

Pharmakologie

Morphin wirkt als klassischer Agonist am my-Rezeptor im Gehirn. Nach einmaliger Gabe von Sevre-long® werden maximale Plasma-Spiegel nach zwei bis sechs Stunden erreicht. Oral eingenommenes Morphin wird in der Leber in das inaktive Morphin-3-Glukuronid und zu einem geringeren Teil in das aktive Morphin-6-Glukuronid metabolisiert, das eine kurze Plasma-Halbwertzeit von zwei bis vier Stunden besitzt. Die Glukuronide unterliegen einem enterohepatischen Kreislauf und werden innerhalb 24 Stunden mit dem Urin ausgeschieden. 

Klinische Studien

In einer offenen multizentrischen Studie wurden in Gruppe 1 39 Personen, die unter einer Methadon-Unverträglichkeit litten, und in Gruppe 2 28 Personen, die trotz einer Methadon-Tagesdosis von 90 mg noch Entzugserscheinungen hatten, während vier Wochen mit dem Morphin-Retardpräparat behandelt. Anhand einer visuellen Analogskala (VAS) und mit der «Symptom Checklist 27» (SCL-27) erfolgte eine regelmässige psychologische Beurteilung, unter anderem bezüglich «Craving» («Drogenhunger»). In der ersten Gruppe betrug die Methadon-Dosis unmittelbar vor der Studie durchschnittlich knapp 80 mg/Tag, was mit einer mittleren Morphin-Dosis von 580 mg/Tag ersetzt wurde; am Schluss der Studie betrug die Durchschnittsdosis 754 mg/Tag. In der zweiten Gruppe betrug die Methadon-Dosis vor der Studie durchschnittlich 120 mg/Tag; hier wurde mit einer mittleren Morphin-Dosis von 990 mg/Tag weiterbehandelt; am Schluss der Studie betrug die Durchschnittsdosis 1100 mg/Tag. In der Gruppe 1 war am Studienende die Zahl von Methadon-assoziierten Symptomen sowie die Anzahl der Personen, die mehr als fünf solcher Symptome aufwiesen, gegenüber dem Zustand vor der Studie signifikant reduziert. Auch der SCL-27-Gesamtwert und die meisten Unterkriterien waren am Ende signifikant kleiner. In der zweiten Gruppe reduzierte sich das «Craving» gemäss VAS um 75%; auch die SCL-27-Werte (insgesamt und in den meisten Unterkriterien) waren am Studienende signifikant kleiner. Gemäss den Berichten der Teilnehmenden nahm auch der Konsum von illegalem Heroin ab, allerdings nicht signifikant (3).

Eine offene randomisierte sogen. Nicht-Unterlegenheits-Studie wurde in 14 Zentren in der Schweiz und Deutschland durchgeführt: 276 Personen, die zuvor durchschnittlich 3,6 Jahre mit Methadon behandelt worden waren, erhielten für je 11 Wochen Methadon oder das Morphin-Retardpräparat. Die eine Gruppe (etwa die Hälfte) wurde zuerst mit Morphin und dann mit Methadon behandelt, bei der anderen Gruppe war die Reihenfolge umgekehrt. Die durchschnittliche Dosis von Morphin lag bei 790 mg pro Tag, diejenige von Methadon bei 300 mg pro Tag. Ein primärer Endpunkt war die Anzahl der (randomisiert abgenommenen) Urinproben, die Heroin-positiv waren. Als Kriterium der Nichtunterlegenheit wurde vor Studienbeginn ein Unterschied von weniger als 10% festgelegt. Rund 20% der Urinproben unter retardiertem Morphin und 15% unter Methadon waren Heroin-positiv, d.h. das Morphin-Retardpräparat war gemäss der Studiendefinition Methadon nicht unterlegen (4). Im Anschluss an die eigentliche Studie folgte eine 25-wöchige Beobachtungsphase, während der alle Teilnehmenden das Morphin-Retardpräparat erhielten.

In dieser Nicht-Unterlegenheits-Studie wurden auch regelmässig die psychischen Probleme anhand der SCL-27 erfasst. Zu Beginn und wiederholt während der Studie wurden alle nach ihrem Beikonsum befragt. Ausserdem wurde die Behandlungszufriedenheit anhand einer VAS getestet. Die Werte auf der SCL-27 unterschieden sich zu Beginn der Behandlung nicht zwischen den beiden Gruppen. In der Gruppe, die sekundär Morphin erhielt, nahm der SCL-27-Wert nach dem Wechsel auf Morphin ab; in der anderen Gruppe stieg der Wert analog unter Methadon an. Einzelne Merkmale veränderten sich unter Morphin signifikant vorteilhaft. Kein signifikanter Unterschied zeigte sich bezüglich des selbstberichteten Konsums von illegalen Drogen oder Alkohol; in der Gruppe, die sekundär Morphin erhielt, stieg der Benzodiazepin-Konsum signifikant. Insgesamt zeigte sich eine höhere Behandlungszufriedenheit unter Morphin verglichen mit Methadon (5).

In einer weiteren Publikation wird über das «Craving» während dieser Studie berichtet. Zu Beginn der Crossover-Phase und dann noch dreimal in jeder Behandlungsphase wurden die Teilnehmenden anhand einer VAS und mit spezifischen Fragebogen («Cocaine Craving Questionnaire», «Heroin Craving Questionnaire») nach Kokain- und Heroin-Konsum befragt. In beiden Gruppen war das «Craving» nach Heroin während der Morphin-Phasen geringer (statistisch signifikant, aber nummerisch bescheiden). Das «Craving» nach Kokain wurde nicht beeinflusst (6).

Unerwünschte Wirkungen

Nochmals eine weitere Publikation zu derselben Studie befasst sich mit den unerwünschten Wirkungen. Sowohl unter Methadon als auch unter Morphin traten bei etwa 80% der Behandelten unerwünschte Wirkungen auf. Eine Verlängerung des QTc-Intervalls war jedoch unter Methadon signifikant häufiger. Auch während der Beobachtungsphase (d.h. während den 25 Wochen nach der Studie, mit ausschliesslicher Morphin-Behandlung) waren bei annähernd 80% der Teilnehmenden unerwünschte Wirkungen festzustellen. In dieser Phase nahm das «Craving» für Heroin ab, gegenüber Kokain blieb es unverändert. Eine Opioid-Überdosis wurde in der ganzen Studie nicht beobachtet (7).

Interaktionen

Die gleichzeitige Anwendung von Morphin und anderen zentral dämpfend wirkenden Arzneimitteln wie z. B. Benzodiazepinen, Neuroleptika, Antidepressiva, Gabapentin (Neurontin®u.a.), anderen Opioiden, Alkohol oder Antihypertensiva kann zu einer Verstärkung der unerwünschten Wirkungen von Morphin bei üblicher Dosierung führen. Dies betrifft insbesondere die Möglichkeit einer Atemdepression, Sedierung, Hypotonie oder auch eines Komas. Morphin passiert (wie andere Opioide) die Plazentarschranke und kann Auswirkungen auf das Neugeborene haben («fetal withdrawal syndrome»).

Dosierung, Verabreichung, Kosten

Sevre-long® wird als Kapseln zu 30, 60, 120 und 200 mg angeboten. Es untersteht dem Betäubungsmittelgesetz. Seine Abgabe wird kantonal geregelt. Grundsätzlich ist eine Substitutionsbehandlung kassenpflichtig. Die Behandlung mit Sevre-long®, beispielsweise mit einer Tagesdosis von 720 mg, kostet etwa 400 Franken pro Monat. Substitution mit einem Buprenorphin-Generikum (8 mg/Tag) kostet rund 100 Franken, mit Methadon (60 mg/Tag) etwa 30 Franken monatlich.

Kommentar

Gesamthaft ist der Nutzen dieses Morphin-Retardpräparates recht spärlich dokumentiert; doppelblinde Studien fehlen vollständig. Gemessen an den Kosten für eine Behandlung mit Sevre long® scheinen die Vorteile marginal, insbesondere enttäuschend ist der Effekt von Sevre long® auf den Beikonsum, der raison d‘être einer Substitutionsbehandlung. Zwar finden sich auf diversen Skalen unter Retard-Morphin verbesserte Werte – was allerdings im Rahmen einer offenen Studie zurückhaltend interpretiert werden muss. Im Einzelfall mag das Präparat als Alternative bei erheblichen Problemen mit Methadon wohl einmal in Betracht gezogen werden. Der hohe Preis steht aber einer Anwendung dieser Substanz als Erstbehandlung im Wege.

Standpunkte und Meinungen

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Retardiertes Morphin zur Opioid-Substitution (28. Februar 2017)
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